Fünf vor 8:00: Westen? Welcher Westen? - Die Morgenkolumne heute von Martin Klingst

 
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20.02.2017
 
 
 
 


 
Westen? Welcher Westen?
 
Die Europäische Union könnte ein Gegengewicht zum unberechenbaren US-Präsidenten sein. Aber auf der Münchner Sicherheitskonferenz zeigte sich, wie zerstritten sie ist.
VON MARTIN KLINGST

An amerikanischen Bekenntnissen zum Nato-Bündnis und zur transatlantischen Allianz hat es auf der Münchner Sicherheitskonferenz nicht  gemangelt. Der Vizepräsident der Vereinigten Staaten, Mike Pence, betonte Amerikas "unerschütterliche" Unterstützung für das westliche Verteidigungsbündnis, US-Verteidigungsminister James Mattis sprach vom "felsenfesten" Beistand.

Manche der am vergangenen Wochenende in München versammelten Regierungschefs und Minister atmeten danach hörbar erleichtert auf. Der transatlantische Schulterschluss von München war wichtig, beruhigen kann er gleichwohl nicht. Denn allen feierlichen Erklärungen zum Trotz blieb Trump der Schatten über München – oder wie die Amerikaner sagen würden: the elephant in the room. Allerdings war er nicht der einzige Elefant, es gab noch einen zweiten: die Europäische Union.

Da Donald Trump fast alles, was bislang den "Westen" ausmacht – Freiheit, Demokratie, Freihandel, Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit–, bedroht, setzen jetzt viele – auch aus Amerika – ihre gesamten Hoffnungen auf die EU. Dieses Bündnis aus 28 und bald nur noch 27 europäischen Staaten, sagen sie, müsste an Amerikas Stelle die Führung des "Westens" übernehmen und die liberale internationale Nachkriegsordnung verteidigen. Doch ist die von schweren inneren Erschütterungen heimgesuchte Europäische Union dazu überhaupt fähig? Auch dafür war München eine Lehrstunde.

Doch zunächst zum ersten Elefanten, zu Donald Trump. Konnten seine nach München entsandten Vertreter die Europäer tatsächlich beruhigen? Wenn, dann allenfalls oberflächlich. Der US-Vizepräsident und der Verteidigungsminister sagten nichts Überraschendes oder inhaltlich Neues. Aller Wahrscheinlichkeit nach durften sie es auch nicht.

Pence und Mattis unterstützten persönlich schon immer die  transatlantische Allianz. General Mattis ist ein altes Nato-Gewächs. In seiner Anhörung vor dem US-Senat sagte er sogar, gäbe es das westliche Verteidigungsbündnis nicht, müsste man es neu erfinden. Das von ihnen in München geäußerte Bekenntnis zur Nato war also keineswegs neu, war mit Trump, wie Pence selber sagte, abgestimmt und wurde lediglich mit ein wenig mehr Pathos vorgetragen.

Ein altes Verständnis von Sicherheitspolitik

Inhaltlich blieben die Vorträge blass. Pence wie Mattis sind Vertreter einer alten, rein auf militärische Stärke ausgerichteten Politik. Pence rühmte die Absicht seines Präsidenten, die Militärausgaben drastisch zu steigern und Amerika stärker denn je zu machen. Im Fokus standen allein Erzfeind Iran und der Krieg gegen den islamistischen Terrorismus.

In ihrer Welt verengt sich Sicherheitspolitik wieder auf das traditionelle Muskelspiel, auf die Zahl der Panzer, Flugzeugträger, Raketen und atomaren Sprengköpfe. Kein Wort verloren sie darüber, welche Rolle Außen- und Entwicklungspolitik spielen werden. Nichts sagten sie zur Europäischen Union und ob ihnen eine schlagkräftige europäische Verteidigungsarmee und eine damit zwangsläufig gestärkte EU gefallen würde. Unerwähnt blieb ebenso, was sie gegen Hunger, Armut, Klimakatastrophen, Krankheiten und Flucht – allesamt riesengroße Sicherheitsbedrohungen – zu tun gedenken. Und wie sie als Supermacht die Zukunft sehen und gestalten wollen.

Trumps Minister an der kurzen Leine

Dazu konnten, wollten – und durften sie wahrscheinlich nichts sagen. Dass sie an der engen Leine geführt werden, drückte auch ihr Verhalten auf dieser Europareise aus. Pence wie Mattis lasen vom Papier oder Teleprompter ab. Die Formulierungen waren gestanzt. Keiner stellte sich Fragen der Journalisten, weder Vizepräsident Pence noch Verteidigungsminister Mattis noch Außenminister Rex Tillerson, der zwar nicht in München aufkreuzte, aber zuvor in Bonn an der Vorbereitungskonferenz zum nächsten G20-Gipfel teilgenommen hatte.

Es war auffällig, wie sehr sie die Medien mieden. Zumal wenn man sie mit anderen Regierungspolitikern verglich. Bundeskanzlerin Angela Merkel, obwohl im Wahlkampfjahr, ließ sich in München von Journalisten befragen, ebenso die Außenminister von Saudi-Arabien, von Israel und so weiter. Selbst der russische Außenminister Sergei Lawrow stand Rede und Antwort.

Die Ängstlichkeit der Amerikaner hat einen Grund: In Washington tobt ein erbitterter Kampf um Macht und Einfluss. Besonnene Kabinettsmitglieder kreuzen die Klinge mit den Scharfmachern im Weißen Haus. Letztere sind bislang im Vorteil, sie sitzen in Rufweite des Präsidenten und haben sein Ohr. Im Zweifel haben einstweilen die Ideologen das letzte Wort. Von ihnen stammt auch der geradezu unverschämte Vorschlag, ausgerechnet einen eisernen EU-Gegner und Brexit-Fan als Botschafter zur Europäischen Union nach Brüssel zu entsenden.

Auf der anderen Seite: eine zerstrittene EU

Damit wären wir beim zweiten Elefanten von München angelangt. Wer glaubte, die gesamte Europäische Union hätte die Kraft, die Zuversicht und den Willen, den "Westen" gegen Angriffe aus dem Weißen Haus zu verteidigen, wurde schnell ernüchtert.

In der Debatte über die Zukunft und die Werte der EU gerieten sich Frans Timmermans, Vizepräsident der Europäischen Kommission, und der polnische Außenminister Witold Waszczykowski derart in die Haare, dass man sich fragte, was außer der Agrar- und Handelspolitik etliche EU-Mitglieder noch eint.

Der polnischen Regierung jedenfalls schien das amerikanische Nato-Bekenntnis zu genügen. Allein darauf hatten sie gewartet, darauf kam es ihnen an. Trumps Angriffe auf die freiheitlichen Werte, auf die anderen Fundamente des westlichen Bündnisses kümmern sie nicht, im Zweifel finden sie das sogar gut.

In einer eindringlichen Rede warnte der republikanische Senator John McCain: Die Frage, ob der Westen überleben werde, hätte man früher für "eine Übertreibung und Alarmismus" gehalten. "Doch gäbe es je eine Zeit, diese Frage mit Todernst zu behandeln, dann jetzt."

Diese Mahnung gilt nicht nur für die Beziehungen zu Donald Trumps Amerika, sondern ebenso für das Verhältnis der Europäer untereinander.


 
WEITERFÜHRENDE LINKS
THE NEW YORK TIMES  In Munich, Pence Says U.S. Commitment to NATO Is ‘Unwavering’
THE WASHINGTON POST  John McCain just systematically dismantled Donald Trump’s entire worldview
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG  Europas Sicherheitspolitik ist ein Grund für Zuversicht



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