10 nach 8: Rebecca Martin über politisches Engagement

 
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13.02.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Wann, wenn nicht jetzt
 
Das Private war für Mittzwanziger noch nie so politisch wie hier und heute. Wir spüren die Auswirkungen gesellschaftlichen Handelns unmittelbar. Mischen wir uns ein!
VON REBECCA MARTIN

Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit, sich einzumischen? © Alyssa Kibiloski/Unsplash
 
Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit, sich einzumischen? © Alyssa Kibiloski/Unsplash
 
 

Es war der Tag nach dem Brexit, als ich merkte, dass wir verschlafen hatten. Meine Kommilitoninnen und ich saßen abgeschirmt vom englischen Wetter unter der Markise einer Restaurant-Kneipen-Kette, die sich aufgrund von Happy-Hour-Cocktails bei uns großer Beliebtheit erfreut, stocherten in unseren Snacktellern herum, drehten Zigaretten aus überteuertem Tabak und wollten es nicht wahrhaben.

Am Tag zuvor hatte ich, dank meiner britischen Staatsangehörigkeit, ein Kreuz auf dem Wahlzettel gemacht, während ich unser aller Lieblingsmotto der vergangenen Monate vor mich hin murmelte: Es wird schon nicht so weit kommen. Ich wog mich in Sicherheit, denn wir hatten uns alle oft genug gut zugeredet, dass die Vernunft siegen wird.

Als die Kandidatur von Trump uns längst kalt erwischt hatte, hielten wir daran fest, dass ein homophober, frauenfeindlicher, rassistischer, krimineller Mann niemals als Präsident der Vereinigten Staaten durchgehen würde. Nach der Wahl redeten wir uns dann abermals gut zu, dass er seine Wahlkampfversprechen schon nicht einlösen werde und die Vernunft siegen wird. Tag für Tag werden wir nun eines Besseren belehrt und können das Ausmaß der Absurditäten schlicht nicht begreifen.

Aber hätten wir all das nicht wissen müssen?

Genauso wie wir wissen, dass manche Menschen ihre Zigaretten in Kaviar ausdrücken, während zur selben Zeit Mütter gezwungen sind, ihre Kinder mit Lehm zu füttern. Wie wir wissen, dass die Welt schlecht ist. Wir wissen, dass wir uns nicht immer moralisch korrekt verhalten, weil unser ganzes System nicht moralisch korrekt aufgebaut ist. Unsere T-Shirts kommen aus Fabriken in Bangladesch, wo Menschen aufgrund mangelnder Sicherheitsstandards sterben, und selbst wenn wir versuchen, Second-Hand- oder Fairtrade-Ware zu kaufen, ist es manchmal eben nicht nur eine Frage des Wollens, sondern auch eine Frage der finanziellen Möglichkeiten in unserem eigenen Land, einem der reichsten der Welt, das Wohlstand belohnt und Kinderarmut und sozialen Abstieg nicht zu verhindern vermag.

Wir wissen das alles, und tun doch schon alles, was uns möglich ist:
Wir essen kein Fleisch oder leben gleich komplett vegan.
Wir posten Mitleidsbekundungen zu den Anschlägen in Paris, Nizza, Brüssel, London, Berlin, wir posten traurige und wütende Smileys, Liebesbotschaften und Hassansagen. Wir nehmen die Anschläge im eigenen Land emotional zur Kenntnis und wollen die Angst dennoch nicht Überhand nehmen lassen. Wir sorgen uns um die Sicherheit von türkischen Journalisten und sagen uns wehmütig, dass wir ja auch nochmal gern nach Istanbul gereist wären, aber ob das jetzt noch eine gute Idee ist?

Wir versuchen immer noch, den Ukraine-Konflikt zu verstehen und fragen uns nun doch, ob dort nicht militärisch interveniert werden sollte, und ob das mit unseren pazifistischen Grundidealen vereinbart werden kann. Wir regen uns darüber auf, dass den Opfern von Boko Haram oder Quebec nicht dieselbe Solidarität entgegengebracht wird wie europäischen Anschlagsopfern, vergessen aber gern mal abends beim Feiern, dass Tausende von Menschen von der Drogenmafia getötet werden, ebenso wie wir beim Badeurlaub am Mittelmeer vergessen müssen, dass ebendieses Meer ein Massengrab für Tausende von Hoffnungen auf ein besseres Leben ist.

Wir unterschreiben Petitionen, wir gehen gegen den Muslim Ban und für die Frauenrechte auf die Straße, wir beschweren uns über die Fahrlässigkeit von Medien, die mit aufbauschenden Schlagzeilen den Hass schüren, anstatt ihn zu bekämpfen, wir schauen uns im Kino den neuen Ken-Loach-Film an und heulen Rotz und Wasser, weil uns die Ungerechtigkeit so trifft und das Elend der Welt so rührt.

Wir fragen uns, warum uns im Jobcenter die Würde genommen werden muss und warum es kein Grundeinkommen gibt, warum Feminismus erst im Berufsleben ein Thema wird, warum nicht mehr Frauen in Führungspositionen sind, warum wir Führungspositionen überhaupt brauchen und was eigentlich für den Kapitalismus spricht.

Kurzum: Wir verdrängen, wir explodieren vor Entrüstung, wir rufen uns zu, dass es Zeit wird zu kämpfen, und ein paar Tage später widmen wir uns doch wieder unserem Netflix-Account. Warum ist das so? Wovor haben wir eigentlich Angst?

Wir müssen Haltung beziehen

Vor ein paar Jahren, ich war 23, veröffentlichte ich im ZEIT-Magazin einen Artikel mit dem Titel Zukunft kommt später. Mit sarkastischem Unterton schrieb ich, dass ich mich mehr für Sex als für Politik interessieren würde, weil mich das Leid der Welt so überfordere, meinen jugendlichen Idealismus abtöte und mich unfähig mache zu handeln.

Drei Jahre später sind mein Körper, mein Geschlecht und meine Sexualität zu einem hochpolitischen Thema geworden. Denn wir leben in einer Zeit, in der uns der amtierende Präsident der USA zu verklickern versucht, und nicht nur er, auch die polnische Regierung, und im Grunde alle Rechtspopulisten, dass eine Frau nicht über sich selbst bestimmen darf. In dem Sinne ist es geradezu meine Pflicht, mich für meine Erotik zu interessieren, und ich brauche sie gar nicht in Konkurrenz mit der Politik zu setzen: Sie sind unmittelbar miteinander verknüpft. Nur als Frau, die ihre Bedürfnisse kennt, die sich von den gesellschaftlichen Zwängen unserer Zeit nicht unterkriegen lässt, kann ich mich gegen eine Propaganda stellen, die jenen alle Rechte absprechen will, die sie vor gar nicht allzu langer Zeit erst errungen haben. Aber richtet sich diese Propaganda nur gegen Frauen oder vielmehr gegen alle Unterdrückten?

Der Krieg ist bei uns angekommen

Während in England die Flüchtlingskrise vielen noch relativ abstrakt erscheint, weil die Regierung alles dafür tut, Geflüchtete gar nicht erst in ihr Vereintes Königreich zu lassen, sind in meinem deutschen Umfeld alle, aktiv oder passiv, in die Flüchtlingsthematik involviert. Freunde und Familienmitglieder engagieren sich in Flüchtlingsunterkünften oder -projekten, Klamotten werden eifrig gesammelt, WG-Zimmer vermittelt, Familienzusammenführungen veranlasst. Der Krieg ist in unseren Wohnzimmern angekommen; mancherorts fühlen sich die ersten schon ausgebrannt, weil sie so viel geholfen, so viel Leid geschultert haben, dass ihnen kaum mehr genug Kraft für ihr eigenes Leben geblieben ist.

Und als Kehrseite der Medaille: Hunderte von Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte, der Rechtsruck, der durch ganz Europa geht. Die AfD ist längst keine Randerscheinung mehr, ihre Ideologien fressen sich in unsere Nächsten und Nachbarn. Somit taucht in unseren Facebooktimelines zwischen Katzen-Memes, Betroffenheitsmeldungen und Partyfotos plötzlich die Gewissensfrage auf, wie wir mit rechtem Gedankengut umgehen sollen, wenn es bei den eigenen Freunden oder in der Verwandtschaft sichtbar wird: Ignorieren oder diskutieren? Und wenn es schon in den sozialen Netzwerken so schwierig ist, wie geht man erst in der Realität damit um? Immer öfter stehen wir vor der Entscheidung, ob wir den Familienfrieden wahren oder für unsere Überzeugungen einstehen wollen. Das Private war, zu meiner Lebzeit zumindest, noch nie so politisch wie hier und heute. Und vielleicht haben wir den gesellschaftlichen Familienfrieden viel zu lange wahren wollen. Ob wir wollen oder nicht, wir müssen Haltung beziehen. Und deshalb ist es einfach keine Option mehr, sich überfordert zu fühlen.

Aber wie sollen wir uns nicht überfordert fühlen, wenn wir das Gefühl haben, dass die Welt viel zu komplex ist und wir nichts bewirken können? Woher sollen wir den Mut nehmen, die Welt als unsere zu begreifen und zu verändern? Fängt es nicht an mit den Geschichten, die wir einander erzählen? Denn was wir uns erzählen, formt unsere Gefühle; es formt unsere Gedanken, unsere Charaktere, unseren Gerechtigkeitssinn, unsere Neugierde, und am Ende unsere Wirklichkeit.

Können wir nicht erst dann für das eintreten, was wir in unserer Lebenserfahrung als wichtig erkannt haben, wenn wir verstehen, dass Widerstand möglich ist? Dass all unsere heutigen Rechte von den Generationen vor uns erkämpft wurden? Tragen wir nicht eine Verantwortung, uns nicht zermalmen zu lassen, vom Kapitalismus, vom Leistungsdruck, von der undurchsichtigen Welt? Sondern sie eben als unsere zu begreifen, weil sie nur durch uns auch ist?

Es ist das Jahr 2017. Warum wollen wir in Berufen sein, die uns knechten und unseren Spieltrieb abtöten? Warum uns Arbeitsstrukturen unterwerfen, die auf den Profit einiger weniger ausgerichtet sind? Was könnte dringlicher sein als weltpolitische Ereignisse, die uns alle persönlich betreffen? Ganz gleich, ob wir ein "Happy End" für realistisch halten, wie wäre es zumindest mit einem "Happy Beginning"?

Wann, wenn nicht jetzt, ist die Zeit, sich einzumischen? Wir haben nichts zu verlieren, wir haben eine Welt zu gewinnen.


Rebecca Martin, 26, studiert derzeit Drehbuchschreiben in Berlin und England. Von ihr erschienen die Romane "Frühling und so", "Und alle so yeah" sowie “Nacktschnecken". Ihre szenischen Texte wurden zuletzt am Soho Theatre in London aufgeführt und unter anderem mit dem Prix Marcela Delpastre ausgezeichnet. Sie ist Gastautorin von "10 nach 8".

 

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Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen.