10 nach 8: Marion Detjen über Vergewaltigungen

 
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27.02.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Gewalt ohne Namen
 
Soll man noch "Vergewaltigungsopfer" sagen? Betroffene befreit man nicht vom Stigma, indem man sie einfach anders nennt. Zwischenruf in einer fehlgeleiteten Debatte
VON MARION DETJEN

Zwei Autorinnen der "taz" haben einen Shitstorm entfacht, weil sie einen neuen Begriff für "Vergewaltigungsopfer" vorschlugen. © Andrew Neel/Unsplash.com
 
Zwei Autorinnen der "taz" haben einen Shitstorm entfacht, weil sie einen neuen Begriff für "Vergewaltigungsopfer" vorschlugen. © Andrew Neel/Unsplash.com
 
 

Als ich damals, nach dem, was mir im Wald passiert war, nach Hause kam, hatte ich sicherlich kein Wort dafür. Vielleicht sagte ich: "Da kam ein Mann und hat mich vom Fahrrad gezerrt …" Auch meine Familie fand keine Bezeichnung für das, was mir geschehen war. Es wurde auf keinen Begriff gebracht, und das war in meinem Fall letztlich gut so: Das Tabu schützte mich und sorgte dafür, dass die Deutung dieses – ja: dieses Erlebnisses – bei mir blieb. Die Polizei wollte den genauen Tathergang wissen; für die konkreten sexuellen Gewalthandlungen einen sprachlichen Ausdruck zu finden, war schwer genug.

Das Wort "Vergewaltigungsopfer" habe ich erst später kennengelernt und es mir, Gott sei Dank, bis heute vom Leibe gehalten. Ich weiß noch, wie erschrocken und angewidert ich war, als ich es zum ersten Mal hörte. Dass es solche Begriffe braucht, um die gesellschaftlichen Folgen von etwas zu regeln, das nie hätte passieren dürfen, ist ein Problem, das ich mir nie zu eigen machen wollte. Sollen die anderen sich mit diesen Wörtern herumschlagen. Wie sie mit dem Hässlichen und Gewalttätigen der Sprache, die sie im Mund führen, zurechtkommen, geht mich nichts an.

Ich sehe ein, dass man das Dings irgendwie nennen muss, um Statistiken zu führen, Rechte und Ansprüche zu definieren, die Täter haftbar zu machen et cetera. "Call it Cornflakes", hat ein Lehrer von mir immer gesagt, wenn er mit uns Begriffsarbeit machte. Wir haben die Begriffe nötig, aber sie sind tückisch, weil sie die Entfremdung, die der Betroffenen durch die Gewalttat entsteht, wiederholen, und wir sollten sie nicht mit der Realität des Erlebens verwechseln, die eine andere Sprache verlangt. 
Jupiter geht straffrei aus

In Ovids Metamorphosen passiert es der Nymphe Callisto, auch ihr passiert es in einem Wald. Jupiter geht straffrei aus, weil die grausame Götter- und Menschengesellschaft, in der die beiden sich bewegen und in der die Tat geschieht, ihre Folgen anders regelt als wir. Das crimen, als Verbrechen und Frevel und Schuld, geht auf die Geschändete über, und Callisto wird der Rache Junos ausgeliefert. Dass sie ein Opfer gewesen (victima) oder ein Opfer gebracht hätte (sacrificium), davon ist bei Ovid nicht die Rede, es hätte auch überhaupt keinen Sinn ergeben in der antiken Gesellschaftsordnung. In den Augen der anderen ist sie die Ehebrecherin (adultera) und Trägerin der Schande (dedecus, crimen, culpa). Aber dabei belässt es Ovid eben nicht, sondern versetzt sich in Callisto hinein und schildert genau, wie sie es erlebt. In Ovids Dichtung wird das Erlebnis Vergewaltigung universell und zeitlos.

In der taz haben Mithu Sanyal und Marie Albrecht unlängst den Vorschlag gemacht, das Wort "Vergewaltigungsopfer" durch "Erlebende sexualisierter Gewalt" zu ersetzen, und damit einen Shitstorm sondergleichen entfacht. Ich verstehe ihren Vorschlag als einen, allerdings misslingenden, Versuch, die von Ovid beschriebene Diskrepanz zwischen den hässlichen, gewalttätigen Wörtern, die die Gesellschaft für ihr Funktionieren braucht, und dem Erleben derjenigen, die sich in dieser Gesellschaft plötzlich schutzlos wiederfinden, zu thematisieren. Natürlich ist eine Vergewaltigung ein Erlebnis, und natürlich ist "das Einzige, was Menschen, die sexualisierte Gewalt erlebt haben, teilen, (…) eben dieses Erlebnis", da haben Sanyal und Albrecht völlig recht. Erlebnisse werden zu Erfahrung, und die Erfahrung können wir uns zunutze machen. In der Erfahrung deuten und interpretieren wir eine Geschichte, die zuallererst uns gehört, und nicht der Gesellschaft. Darin liegt das emanzipative Potenzial des Vorschlags.

Misslungen ist der Versuch jedoch deshalb, weil Sanyal und Albrecht naiv glaubten, durch Ersetzung der hässlichen Wörter gleich auch das Stigma mit zu beseitigen, das wohl in fast allen Gesellschaften mit Vergewaltigung einhergeht. "Doch keine Sorge, es gibt eine Lösung!", schreiben sie. Nein, so einfach ist es nicht. Solange bei uns Vergewaltigungen vorkommen, wird auch das Stigma da sein. Ändern lassen sich nur die Folgen, die aus dem Stigma erwachsen, und die Art und Weise, wie es wirkt: Es ist immerhin schön und ein Fortschritt, dass wir heute nicht mehr in Bärinnen verwandelt, also ganz aus der Gesellschaft ausgestoßen werden, wie Callisto. Sanyal und Albrecht haben den Fehler begangen, die Diskrepanz zwischen den etablierten Begriffen und dem Erleben der Betroffenen nicht nur zur Diskussion zu stellen, sondern schließen zu wollen. Sie hätten lieber mit Ovid an einer Sprache für das Erleben arbeiten sollen, als es zum Begriff zu zementieren und zu bürokratisieren. (Eine Zusammenfassung der gewalttätigen Auseinandersetzung um ihren Artikel findet sich hier.)

Das Opfer bekommt einen Status

Trotzdem bin ich für ihren Vorschlag dankbar. Er hat mir die ganze grundsätzliche Ambivalenz des Opferbegriffs noch einmal vor Augen geführt. In der Bundesrepublik werden dem Opfer Rechte und Rehabilitierungen zugestanden: Wer als "Opfer der nationalsozialistischen Verfolgung" anerkannt wurde, bekommt Entschädigungszahlungen, "Opfer politischer Verfolgung im Beitrittsgebiet" (soll heißen: in der ehemaligen DDR) erhalten Ausgleichsleistungen, Opferverbände aller Art bekommen staatliche Finanzierungen und politische Mitsprache, das "Opfergedenken" ist Teil einer staatlich beauftragten und abgesicherten Erinnerungskultur, mit Anspruch auf Pietät, die im Zweifelsfall sogar strafrechtlich durchgesetzt wird, et cetera. All diese Wiedergutmachungsversuche können als Errungenschaften gelten. 

Der Haken ist nur, dass sie erst nachträglich funktionieren und nichts an den Ursachen ändern, die das Opfer zum Opfer gemacht haben. Diejenigen, die sie in Anspruch nehmen – in Anspruch nehmen müssen, oft aus bitterster Not –, lassen sich dadurch gewissermaßen ruhigstellen. Das Opfer bekommt einen Status, um den Preis, in die Ordnung einzuwilligen, die sie zuallererst schutzlos gemacht hat, jetzt aber anerkennt. Das Gleiche gilt übrigens zum Beispiel auch für Menschen mit Behinderungen und für geflüchtete Menschen: Die einen bekommen einen Behindertenausweis, Steuernachlässe, staatliche Hilfen, die anderen bekommen – wenn sie großes Glück haben – Flüchtlingsrechte nach der Genfer Flüchtlingskonvention. Und sie alle erkennen durch Annahme ihres Status an, auf selbstverständliche Inklusion zu verzichten.

Sich als Opfer, als behindert, als Flüchtling zu outen, mag also in vielen Situationen notwendig sein, aber es ist und bleibt eine Stigmatisierung, eine Zuschreibung unerwünschter Andersheit, und wer sie vermeiden kann, wird sie vermeiden.

Ein Risiko, den Begriff aufzugeben?

Vielleicht ist es gerade dieser furchtbar schmerzhafte, stigmatisierende Zusammenhang zwischen der Schutzlosigkeit und der Einwilligung in die Ordnung, der die erstaunliche Aggressivität der Reaktionen auf Sanyals und Albrechts Artikel erklärt. Die Ordnung muss aufrechterhalten werden, und dafür wird mit den bösartigsten Unterstellungen gearbeitet. Dass sich die Kritiker/innen unter einem Erlebnis nichts anderes vorstellen können als ein Event – "Erlebniszoo", "Erlebnisurlaub", "Konzertbesuch" –, und den Autorinnen deshalb Verharmlosung vorwerfen, könnte man noch dem allgemeinen Trend zur Verflachung und zum Konsumismus des Erlebens zuschreiben, dem die Kritiker/innen offenkundig unterworfen sind. Ich will ihnen hier nur entgegnen, dass für mich das Erleben von Musik und die Erinnerung an mein Erlebnis im Wald natürlich zusammengehören. 

Merkwürdiger ist der Voyeurismus, wenn sich zum Beispiel Simone Schmollack in der taz eine "Freundin" vorstellt, die vergewaltigt worden ist: "Die Arme! Was sie wohl durchgemacht hat?" Sie imaginiert die "heftigen Schmerzen im Unterleib", "zerrissene Kleidung", "blaue Flecken an Armen und Beinen", bla, bla, bla, und stellt sich dann vor,  diese "Freundin" abzuservieren, weil sie den Opferbegriff ablehnt: "Will die mich verarschen? Sie ist vergewaltigt worden, tut jetzt aber so, als habe das mit ihr nichts zu tun, weil sie nicht als Opfer dastehen will?" Ja, Verarschung und Täuschung wird man von einer Vergewaltigten wohl erwarten müssen, herzlichen Dank für die Freundschaft!

Am merkwürdigsten jedoch ist, was Ursula Scheer in der FAZ schreibt: Sanyals und Albrechts Artikel führe "geradewegs in den Abgrund" – in welchen Abgrund? Was meint sie nur damit? Es "werde der Begriff des Opfers liquidiert" – hat sie den Artikel nicht gelesen? Dort steht doch explizit, dass die Begriffe koexistieren sollen. Und dann dies: Der Artikel stehe "beispielhaft für die Irrläufe eines reaktionären, vor allem im Internet heimischen Feminismus (…), der sich mit viel Hashtag- und Sprachvorschriftsgetöse als vermeintliche Speerspitze im Kampf um Gleichstellung aller Gender und Identitäten, Ethnien und Klassen geriert, tatsächlich aber Opferverachtung betreibt". Hä? Opferverachtung? Wie kommt sie darauf? Der Artikel macht Fehler, aber er ist doch an keiner Stelle verächtlich. Verächtlich und höhnisch ist vielmehr diese Kritik, die nie abwägt, sondern gegen die "vermeintlichen Expertinnen" zu Felde zieht wie gegen den schlimmsten Feind. Und was meint sie nur mit "reaktionär"?

Man kann ihnen allen das legitime Anliegen zugestehen, auf die Statusrisiken hinzuweisen, die mit der Aufgabe des Opferbegriffs verbunden wären, und die Errungenschaften zu verteidigen, die die Gesellschaftsordnung immerhin vorzuweisen hat. Doch um diesen Zweck zu erreichen, begehen sie den gleichen Fehler, den die Autorinnen begangen haben, nur mit umgekehrten Vorzeichen. Die Autorinnen wollten die Beseitigung der Diskrepanz zwischen dem Erleben und der Gesellschaftsordnung zugunsten des Erlebens erzwingen. Die Kritiker/innen hingegen leugnen die Diskrepanz, indem sie das Erleben als ein passives "Leiden" sistieren, dem keine Eigenständigkeit und keine Entwicklung, keine Sprachmächtigkeit und keine politische Kraft zugestanden wird. Offenkundig wird der aktive Anteil des Erlebens und Erfahrens sexualisierter Gewalt als äußerst gefährlich, als regelrecht abgründig wahrgenommen und muss deshalb ausradiert werden.

Das Stigma einer Vergewaltigung ist unhintergehbar. Wir alle haben unabhängig von unserem guten Willen an der Stigmatisierung teil, bis in die Familien und in das privateste Umfeld der Betroffenen hinein. Ich denke, dass der erste Schritt sein müsste, diese Tatsache anzuerkennen. Dann wird es vielleicht auch möglich sein, die produktive und innovative Kraft, die das Stigma auch haben kann, zu erkennen und zu entwickeln, und die Angst vor der Aktivität des Erlebens abzubauen. Das Erleben sexualisierter Gewalt kennt nämlich nicht nur den Täter und die Tat, sondern sammelt auch Wissen um die Verknüpfungen zwischen dem Täter, der Tat, der eigenen Person und dem gesellschaftlichen Umfeld, in dem die Tat stattfindet. Und dieses Wissen und diese Aktivität sollten, gerade weil sie für die bestehende Ordnung so unbequem sind, für echte Veränderungen eingesetzt werden.

Marion Detjen ist Historikerin am Zentrum für Zeithistorische Forschung. Ihre Schwerpunkte liegen auf der deutsch-deutschen Migrationsgeschichte, Gender und den Grenzen zwischen Öffentlichkeit und Privatheit. Sie ist Mitglied der Redaktion von "10 nach 8". 

 

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