Fünf vor 8:00: Der Brexit wird viel Streit bringen - Die Morgenkolumne heute von Theo Sommer

 
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04.04.2017
 
 
 
 


 
Der Brexit wird viel Streit bringen
 
Nach 44 Jahren behalten die britischen EU-Kritiker recht. Großbritannien wird mit Europa nur noch verbunden, nicht mehr beteiligt sein. Wie genau, das wird kompliziert.
VON THEO SOMMER

Perfides Albion. Splendid isolation. Leichnam EU. I want my money back. Globale Nation. Seitdem die Briten am 29. März in Brüssel ihren Antrag auf Austritt aus der Europäischen Union gestellt haben, blüht der Gebrauch von Metaphern – alten wie neuen. Der Scheidungsbrief Theresa Mays markierte den Anfang vom Ende einer 44 Jahre lang andauernden Beziehung.

Für den früheren Ukip-Chef, Nigel Farage, den Initiator des Brexits, war der 29. März "a big happy day". Für mich war es der düsterste Tag der europäischen Nachkriegsgeschichte. Wobei ich gern einräume, dass meine Haltung zur Mitgliedschaft Großbritanniens im Lauf der Jahre manchen Schwankungen unterworfen war.

Im Juli 1971 – damals war ich stellvertretender Chefredakteur der ZEIT – schrieb ich einen Leitartikel über den englischen Beitritt. Ich schrieb ihn in der ungewöhnlichen Form eines Briefes an den jungen konservativen Abgeordneten Timothy Raison, einen Studienfreund aus Harvard. Ich wusste, er stand dem Eintritt in die damalige EWG skeptisch gegenüber. Vor dem entscheidenden Unterhausvotum wollte ich aber doch noch einmal an ihn appellieren. "Lieber Tim!", schrieb ich, "ich beschwöre Sie: werfen Sie Ihr Herz über die Hürde!"

Ich hatte keine Illusionen über die Europabegeisterung der Engländer. Gewiss, Winston Churchill hatte 1946 in einer berühmten Rede an der Universität Zürich gesagt: "Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa schaffen." Frankreich und Deutschland müssten dabei die Führung übernehmen. Was aber stets übersehen wird: Den Platz Großbritanniens sah er nicht in diesem von ihm skizzierten neuen Europa, nur dessen "Freund und Förderer" wollte er sein. Ganz in diesem Sinne hatte er schon 1930 formuliert, das Vereinigte Königreich sei "with Europe but not of it, linked but not comprised".

Die britischen Kritiker haben recht behalten

So sah es auch der britische Diplomat Russell Bretherton, der London bei den Verhandlungen über die Römischen Verträge vertrat. Sein hochmütiger Satz ist in die Geschichtsbücher eingegangen: "Der Vertrag, den Sie diskutieren, hat keine Chance, Zustimmung zu finden; wenn doch, hätte er keine Chance, ratifiziert zu werden; wenn er ratifiziert würde, hätte er keine Chance, umgesetzt zu werden; und wenn er umgesetzt würde, wäre er für Britannien ganz und gar unakzeptabel." Aber nach 44 Jahren, so sieht es aus, hat Bretherton recht behalten.

Drei Gründe für eine britische Mitgliedschaft führte ich in meinem Brief an Timothy Raison auf. Erstens: Nur wenn England beitritt, wird die EWG aus der ständigen Konfrontationsgefahr zwischen Frankreich und der Bundesrepublik erlöst. Zweitens: Als größter Handelsblock könnte die erweiterte Gemeinschaft ihre Verantwortung für die Entwicklung des freien Welthandels ganz anders vertreten. Drittens: Das Europa der Sechs sei zu klein; allein mit England verlohne es sich, seine Rolle in der Welt, seine Interessen und seine Aufgaben neu zu definieren, ohne der Lächerlichkeit, der Hybris oder der Peinlichkeit des Scheiterns anheim zu fallen.

Der Brexit ist keine Scheidung, sondern eine Amputation

Tim warf damals sein Herz über die Hürde. Er wurde Minister im Kabinett von Edward Heath, der das Vereinigte Königreich 1973 in die EU führte, zehn Jahre, nachdem General Charles de Gaulle den Briten erst einmal die Tür vor der Nase zugeschlagen hatte.

De Gaulles Begründung war unabweisbar: England sei eine Insel, sagte er bloß. Und in der Tat brach ja das insulare Denken bei sämtlichen englischen Premierministern immer wieder durch. Clement Attlee hatte Nein gesagt zur Montanunion. Harold Macmillan versuchte listenreich der werdenden EWG mit der Schaffung der Europäischen Freihandelszone (EFTA) das Wasser abzugraben. Harold Wilson drohte mit Neuverhandlungen und beraumte 1975 ein erstes Referendum über den Verbleib in der Europäischen Gemeinschaft an; 67 Prozent stimmten zum Glück dafür, voller Enthusiasmus übrigens auch noch Margaret Thatcher, die dann allerdings, als sie erst einmal in der Downing Street 10 saß, den Europäern Sonderrabatte abpresste. Auch Tony Blair und David Cameron setzten eine lange Reihe von opt-outs durch, die Englands Mitgliedschaft durchlöcherten wie einen Schweizer Käse. Und weder bei Schengen noch beim Euro machte London mit. Es war nie mit ganzem Herzen bei der europäischen Sache, sondern wollte im Grunde stets nur eine Freihandelszone, nicht jedoch die immer engere Union der Völker.

In all den Jahren kam ich mehrmals an den Punkt, an dem ich an der britischen Widerborstigkeit, den ewigen Nachforderungen und Ausnahmebegehren verzweifelte und die Briten zum Teufel wünschte. Der Gedanke durchzuckte mich jedenfalls mehr als einmal. Jetzt freilich, wo alles auf Scheidung hinauszulaufen scheint, verbiete ich mir derlei defätistische Gedanken. Bei Lichte betrachtet geht es ja um weit mehr als eine Scheidung, nämlich um eine Amputation, die chirurgische Trennung zweier vielfältig zusammengewachsener Wesen. Wir werden sie überleben, aber wir werden beide danach vermindert und behindert sein, die Briten wie die übrigen Europäer.

Manchmal keimt in einem ja die leise Hoffnung auf, die Briten könnten sich doch noch einmal umbesinnen: wenn sie die Folgen des Austritts in all ihrer belastenden Komplexität erkennen; wenn ihre Absetzbewegung aus der Brüsseler Gemeinschaft die Sezession Schottlands heraufbeschwört; wenn sie nicht mehr mit ihrem immer schwächer werdenden Pfund wuchern können. Oder wenn sie sich vielleicht noch einmal Margaret Thatchers flammenden Appell aus dem Jahr 1975 vornehmen, in Europa zu bleiben. Doch wer wollte darauf schon Wetten eingehen?

Notgedrungen werden wir uns wohl auf ein Großbritannien einrichten müssen, das ganz nach Churchills Vorstellung handelt: "with Europe but not of it, linked but not comprised" – verbunden, aber nicht einbegriffen. Bisher war es nicht ganz drin, nach 2019 wird es nicht ganz draußen sein. Über die künftigen Bindungen wird es in den nächsten 24 Monaten viel Streit geben.

An uns Verbleibenden wird es sein, das europäische Projekt ohne Illusionen doch entschlossen voranzutreiben. Den Engländern können wir dann den Satz aus Schillers zur Europahymne gewordenen "Ode an die Freude" zurufen: "Und wer's nie gekonnt, der stehle / weinend sich aus diesem Bund!"


 
WEITERFÜHRENDE LINKS
MARGARET THATCHERS REDE VOM 16. APRIL 1975  "We are inextricably part of Europe“
DIE ZEIT VOM 2. JULI 1971  "Europa jenseits des Butterbergs"
FINANCIAL TIMES  "How to get Britain back into the EU"



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