Fünf vor 8:00: Bloße Rache ist dem europäischen Recht fremd - Die Morgenkolumne heute von Martin Klingst

 
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 FÜNF VOR 8:00
24.04.2017
 
 
 
 


 
Bloße Rache ist dem europäischen Recht fremd
 
Es wäre fatal, sollten Ignoranz und Unwissen in der Türkei und anderswo zur Wiedereinsetzung der Todesstrafe führen. Dort, wo sie vollstreckt wird, wächst Widerstand.
VON MARTIN KLINGST

Verkehrte Welt: In Europa, wo die Todesstrafe seit Langem nicht nur verpönt, sondern grundsätzlich verboten ist, findet sie unter etlichen Politikern inzwischen einige neue, namhafte Anhänger. Hingegen stößt sie dort, wo sie grundsätzlich erlaubt ist und Todesurteile nach wie vor verhängt und vollstreckt werden, auf immer größeren Widerstand.
 
Der türkische Präsident Erdoğan zum Beispiel ist für die Wiedereinführung der Todesstrafe und will sein Volk darüber abstimmen lassen. Dasselbe versprach die Französin Marine Le Pen ihren Wählern. Auch Ungarns Premierminister Orbán liebäugelte vor einiger Zeit mit dieser Idee. Doch nahm er nach Drohungen aus Brüssel davon Abstand. Denn noch gilt: Wer die Todesstrafe erlaubt, kann nicht Mitglied der Europäischen Union bleiben oder werden.
 
Dieser Satz drückt die prinzipiell unterschiedliche Sichtweise und Philosophie aus, mit der Amerika und Europa, die Neue und die Alte Welt, auf die Todesstrafe blicken: "Vernünftige Menschen können durchaus unterschiedlicher Auffassung darüber sein, ob Tod eine angemessene Strafe ist. Aber niemand sollte hingerichtet werden, wenn es noch eine Möglichkeit gibt, dass diese Person unschuldig ist." So argumentierten die Verteidiger des bis zuletzt seine Unschuld beteuernden 51-jährigen Ledell Lee, der am vergangenen Donnerstag im US-Bundesstaat Arkansas mit einer Giftspritze hingerichtet wurde.
 
Nein, in Europa können vernünftige Menschen nicht unterschiedlicher Auffassung über die Todesstrafe sein. Sie ist eine unmenschliche und grausame Sanktion und darum aus Prinzip verboten. Die Achtung des Lebens verlangt vom Staat, dass er niemanden tötet, den er in seinen Händen hält, also bereits festgenommen hat – und sei es der schlimmste Verbrecher. Bloße Rachegedanken sind unserem Recht fremd.
 
Fehlerhafte Todesurteile
 
In den USA hingegen argumentiert man weniger grundsätzlich als rechtlich-pragmatisch. Die Todesstrafe ist dort nicht schon per se eine unmenschliche und grausame Sanktion, doch können dies die Art und Weise ihrer Ausführung und die diversen Begleitumstände sein. Immer mehr Bundesstaaten sind davon überzeugt, dass genau dies der Fall ist.
 
Eine vollstreckte Todesstrafe, sagen die Gegner, sei nicht mehr umkehrbar, falls sich später ein Justizirrtum herausstelle. In der Tat: Seit es DNA-Tests gibt, haben sich Dutzende von Fehlurteilen herausgestellt. So musste zum Beispiel das FBI zugeben, dass fehlerhafte forensische Untersuchungen in mehr als dreißig Fällen zu einem Todesurteil geführt haben.
 
Oft müssen Todeskandidaten jahrzehntelang in ihrer Zelle ausharren. Ledell Lee wurde zum Beispiel 22 Jahre nach seiner Verurteilung hingerichtet. Die Todesstrafe ist außerdem rassistisch, weil sie unverhältnismäßig viele Schwarze trifft. Und ungerecht, weil Arme sich keinen teuren Verteidiger leisten können. Vor allem aber verursacht die Hinrichtung immer wieder höllische Qualen. Darum sagen die Gegner: Solange nicht zweifelsfrei gewährleistet werden könne, dass ein Todeskandidat während der Exekution nicht besonders leiden müsse, sei die Todesstrafe unmenschlich und grausam.
 
Arkansas zeigt das Ausmaß der Todesstrafe
 
Der Wahnsinn der Todesstrafe wird derzeit in Arkansas vorgeführt. Weil der knappe Vorrat des Betäubungsmittels Midazolam das Haltbarkeitsdatum zu überschreiten drohte und Nachschub immer schwerer zu besorgen ist, ordnete der Gouverneur von Arkansas bis Ende April die Hinrichtung von acht zum Tode verurteilten Mördern an.
 
Die Todeskandidaten zogen vor Gericht, ebenso die Angehörigen der Mordopfer. Es entfaltete sich ein Justizdrama bis hoch zum Supreme Court, dem obersten Gericht der USA. In einigen Fällen geboten Richter Einhalt, in anderen wird die endgültige Entscheidung in den nächsten Tagen ergehen. Bislang durfte nur Ledell Lee hingerichtet werden.
 
Am vergangenen Donnerstag wurde ihm erst eine Spritze mit dem Betäubungsmittel Midozalam gesetzt, damit er das Bewusstsein verlor. Dann führte man ihm zur Atemlähmung Vecuronium ein – und schließlich Kaliumchlorid, das sein Herz stillstehen ließ. Zwölf Minuten dauerte der Kampf. Um 23.56 Uhr, vier Minuten, bevor die Hinrichtungsgenehmigung ausgelaufen wäre, stellte der Arzt seinen Tod fest.
 
Bis zuletzt hatten seine Anwälte vor Gericht um eine Verschiebung gerungen. Sie trugen vor, mit neuen DNA-Tests ließe sich womöglich die bis zum Ende beteuerte Unschuld beweisen. Doch die Richter gewährten keinen Aufschub.
 
Gegen das Todesurteil hatte sich überdies auch Amerikas größter Medikamentenvertreiber McKesson zur Wehr gesetzt. Die Gefängnisverwaltung, so der Einwand, habe den Konzern über die konkrete Verwendung des Betäubungsmittels Midozalam im Dunkeln gelassen. Einem Gebrauch als Todesmittel habe man nicht zugestimmt. Der Staat von Arkansas hielt dagegen: Es gebe keine "taugliche rechtliche Theorie", die den Käufer verpflichte, ein Produkt so zu verwenden, wie es der Verkäufer nach dem Verkauf diktiert habe. Das Oberste Gericht von Arkansas sah es ebenso.
 
1976 ließ der Supreme Court in Washington die Todesstrafe wieder zu. Doch in den vergangenen Jahren ist sie auf dem Rückzug. Elektrische Stühle sind verpönt, der Tod durch den Strick oder Erschießungskommandos sowieso. Den Giftspritzen gehen allmählich die Medikamente aus und das Betäubungsmittel Midozalam hat bei einigen Todeskandidaten heftige Schmerzen ausgelöst.
 
Pharmaproduzenten liefern keine Mittel mehr
 
Der Protest der Todesstrafengegner hat sich ausgezahlt. Europäische Pharmazieunternehmen liefern die nötigen Medikamente nicht mehr nach Amerika und US-Konzerne bestehen vor dem Verkauf immer öfter auf der Zusicherung, dass mit ihren chemischen Substanzen niemand in den Tod befördert wird.
 
Inzwischen gehören die Vereinigten Staaten von Amerika nicht mehr zu den fünf Spitzenreitern der Todesstrafe, das hat die Menschenrechtsorganisation Amnesty International soeben in einem Bericht festgestellt. Im vergangenen Jahr wurden in den USA "nur" 30 Todesurteile verhängt und 20 vollstreckt. Auf dem Höhepunkt wurden 1996 noch 315 Todesurteile ausgesprochen und 1998 insgesamt 98 Menschen hingerichtet.
 
Nicht auszuschließen, dass dank tiefer Einsicht die Todesstrafe in Amerika bald ganz und gar abgeschafft wird. Umso fataler, sollten Ignoranz und Unwissen in einigen europäischen Staaten zu ihrer Wiedereinsetzung führen.


 
WEITERFÜHRENDE LINKS
WASHINGTON POST  Will death penalty be the death knell for EU-Turkey talks?
NEW YORK TIMES  Neil Gorsuch and the State´s Power to kill
THE GUARDIAN  How can we execute people if 1 in 25 on death row are innocent?



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