Freitext: Rainer Merkel: Sehnsucht nach Paris, trotz alledem

 
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27.04.2017
 
 
 
 
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Sehnsucht nach Paris, trotz alledem
 
Nachmittags Idylle im Jardin du Luxembourg. Abends zeigt der Kellner ein Handy-Video von einem Anschlag. Wie viele Gegensätze kann eine Stadt aushalten?
VON RAINER MERKEL

 
© Pedro Lastra/Unsplash
 
L. denkt, wir könnten diesen Sommer wieder nach Paris fahren. Irgendwann im August, wenn sich die Stadt leert, um sich vorübergehend ganz den Blicken und Phantasmen seiner Besucher auszuliefern. „Wir wissen gar nicht, ob Paris im Sommer überhaupt noch existiert“, entgegnen wir, „und ob Europa dann überhaupt noch da ist.“ Mit L. über Europa zu diskutieren hat keinen Sinn. Obwohl L. behauptet, Paris sei die Stadt, in die sich das Beirut seiner Jugend transformiert hat. Paris als Tagtraum. Beirut, das sich immerfort nach Paris sehnt, obwohl Paris gar nichts mehr mit Beirut zu tun haben will.
 
Letztes Jahr im Sommer hatten wir gleich mehrere Aufträge. Zum Beispiel: „Bringt mir Lippenstift von Guerlain mit. Die beste Filiale ist auf den Champs-Élysées.“ Aber versteht L. denn nicht, welcher Gefahr wir ausgesetzt sind? Gerade jetzt würden wir natürlich auf keinen Fall auf die Champs-Élysées fahren. Schon mal gar nicht, um Lippenstift zu besorgen. L. wollte schon immer in Paris sein, dort leben und Karriere machen. Schließlich haben wir ihn solange bearbeitet, bis er seine Meinung geändert hat. K. hat ihm einen Job in München besorgt und von dort fliegt er jetzt mit Eurowings nach Paris. Im Sommer letzten Jahres aber hatte er keine Zeit und es war klar, dass wir die Sache für ihn übernehmen würden. „Aber warum soll Paris denn untergehen?“, fragt L. lachend. „Paris kann doch gar nicht untergehen.“
 
Natürlich werden wir im Sommer nicht noch mal nach Paris fahren. Unabhängig davon, wie die Wahlen ausgehen. Man kann nicht jedes Jahr nach Paris fahren. Man kann nicht so tun, als sei jetzt alles ein großer, zusammenhängender, schön eingerichteter urbaner Raum, in dem alles möglich ist. Im Jardin du Luxembourg kann man die Stühle verschieben. Das ist das Tollste an Paris. Man kann in einen Park gehen und sich einen Stuhl suchen und mit diesem Stuhl theoretisch unendlich oft den Platz wechseln. Mal im Schatten sitzen, mal wieder in der Sonne, mal an dem kleinen Wasserbecken, nicht weit von dem Pavillon de la Fontaine.
 
Nach unserer kleinen Shopping-Tour haben wir uns erstmal ausgeruht. Wir haben zugeschaut wie ein kleines Schiff zu Wasser gelassen wird. Im Nachhinein haben wir es (aber wir haben L. nichts davon erzählt) „MS Europa“ getauft. Das Schiff, ausgestattet mit allem möglichen Klunker, Playmobilfiguren, kleinen Volieren, Plastikperlen und einem unendlichen Gewirr von Kabeln und Schnüren, wird auf einem mehrfach reparierten und ausgemusterten Kinderwagen antransportiert. (Kurzes Interview mit dem Besitzer des Kinderwagens: „Was soll ich machen? Meine Kinder sind aus dem Haus. Meine Frau hat sich von mir scheiden lassen. Das ist jetzt mein Leben.“) Er hat einen Assistenten. Gemeinsam heben sie das Gefährt aus dem Kinderbett und lassen es zu Wasser. Die Aufgabe des Schiffes steht von vornherein fest und ist klar umgrenzt. Von einer Seite zur anderen Seite des Teichs. Das sind vielleicht zehn Meter. Die MS Europa, in der Sonne kryptisch, mysteriös mit der Aura eines mondänen Piratenschiffs, sieht aus der Nähe betrachtet wie eine Bastelarbeit aus, die auf charmante Weise schief gegangen ist.
 

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