Im Streit um das nordkoreanische Atomwaffenprogramm ist die Stimme desjenigen Landes kaum zu hören, das von einer Eskalation direkt betroffen wäre, unmittelbarer jedenfalls als China oder die Vereinigten Staaten – die Stimme Südkoreas. Die Erklärung dafür, könnte man meinen, ist offensichtlich. Schließlich ist Präsidentin Park Geun Hye mit Schimpf und Schande ihres Amtes enthoben worden und wartet nun im Gefängnis auf ihren Prozess. Bei der Präsidentschaftswahl am kommenden Dienstag, dem 9. Mai entscheiden die Südkoreaner über Parks Nachfolge. Mitten in der Krise herrscht in Seoul ein politisches Vakuum. Aber diese Erklärung allein reicht nicht aus. Viele Südkoreaner sind hin- und hergerissen zwischen tatsächlicher Furcht angesichts des Kriegsgeschreis aus dem Norden und Sorge vor einer überzogenen Reaktion der Vereinigten Staaten. Sie sehen die Gefahr, die von Diktator Kim Jong Un ausgeht. Aber sie haben gelernt, mit der Bedrohung aus dem Norden zu leben. Pjöngjangs Propagandagetöse gegen den "US-Imperialismus und seine Kettenhunde" ist ihnen seit Jahrzehnten vertraut. Die Südkoreaner wissen zudem genau, wie groß das Gefälle ist zwischen ihrem Hightech-Land, der elftgrößten Volkswirtschaft der Welt, und dem verarmten Nordkorea. Im Süden lag das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf 2015 bei 36.500 US-Dollar, im Norden erreichte es nur 1.800 US-Dollar – ein Zwanzigstel. Auch wenn Nordkoreas Gesellschaft beispiellos militarisiert ist: Gerade die jungen Südkoreaner blicken eher mit Geringschätzung als mit Sorge auf den von der Kim-Dynastie heruntergewirtschafteten Norden. Derzeit aber stockt Südkoreas Wachstum. Deshalb standen im Wahlkampf zunächst Wirtschaftsthemen im Vordergrund. Und natürlich wurde auch mit den korrupten Eliten in Politik und Wirtschaft abgerechnet. Nun aber, da die Wahl näher rückt, wird auch das Thema Sicherheit immer intensiver diskutiert. Dabei sind sich alle einig, dass es ein Korea passing nicht geben darf – China und die USA sollen nicht über die Köpfe der Südkoreaner hinweg entscheiden dürfen, wie sie auf die Bedrohung aus Nordkorea reagieren. Diese Forderung richtet sich vor allem an Donald Trump. Der US-Präsident hat immer wieder betont, im Konflikt mit Pjöngjang lägen "alle Optionen auf dem Tisch", dazu gehört für ihn ausdrücklich auch die Möglichkeit eines militärischen Angriffs. Der hätte nicht nur furchtbare Folgen für die Bevölkerung Nordkoreas, er würde – wegen des unabwendbaren Gegenschlags – auch schreckliches Leid über die Menschen im Süden bringen. Als die südkoreanischen Präsidentschaftsanwärter nun bei einer Fernsehdebatte gefragt wurden, wer von ihnen einen Präventivschlag der USA gegen Nordkorea unterstütze, sprachen sich deshalb sämtliche Kandidaten strikt dagegen aus. Verwirrung statt Verlässlichkeit durch die US-Regierung Umstritten ist auch das Raketenabwehrsystem Thaad (Terminal High-Altitude Area Defense), das die Amerikaner in Abstimmung mit der bisherigen südkoreanischen Regierung installieren. In Seongju, rund 200 Kilometer südöstlich von Seoul, wo die Raketenbatterien aufgestellt werden, gab es vorige Woche heftige Proteste; mehr als 8.000 Polizisten hatten die US-Militärfahrzeuge, die Teile des Abwehrsystems heranschafften, vor den Demonstranten abgeschirmt. Selbst Südkoreaner, die Donald Trump und den Vereinigten Staaten wohlgesonnen sind, verblüffte der US-Präsident jetzt mit der Forderung, Seoul solle eine Milliarde Dollar für das "phänomenale" Abwehrsystem zahlen, das die "Raketen direkt aus dem Himmel holt". Vereinbart war etwas anderes: Die Südkoreaner sollten das Land zur Verfügung stellen, die Amerikaner die Raketen. Später hieß es aus Washington wieder, die USA wollten nun doch zahlen. Die Verwirrung auf Seiten der Südkoreaner war komplett. Ohne Vorwarnung kündigte Trump zudem an, er wolle das Freihandelsabkommen zwischen den USA und Südkorea "neu aushandeln oder aufkündigen". Strategisch durchdacht ist dies alles nicht. Trump verärgert die Südkoreaner mitten in einer Krise, in der es für sie um so viel mehr geht als für die Vereinigten Staaten. Wann, wenn nicht jetzt, muss sich das Land auf seinen engsten Verbündeten verlassen können? Zumal vom Thaad-System keine Wunder zu erwarten sind. Die nur 60 Kilometer südlich der demilitarisierten Zone gelegene Hauptstadt kann es nicht schützen. Der Großraum Seoul mit seinen 25 Millionen Menschen liegt in Reichweite der "konventionellen" nordkoreanischen Artilleriegeschütze; eine Abwehr gegen ballistische Raketen hilft da nicht. Es gibt Schätzungen, nach denen schon in den ersten beiden Stunden eines Krieges mit dem Norden 130.000 Einwohner Seouls sterben könnten. Ein Präventivangriff auf Nordkorea, ein "Enthauptungsschlag" gegen das Regime in Pjöngjang wäre deshalb ohne die ausdrückliche Zustimmung der gewählten Regierung Südkoreas weder politisch noch moralisch zu rechtfertigen. |
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