Auf der Kirchentagsdiskussion mit Angela Merkel und Barack Obama am vergangenen Donnerstag stellten zwei junge Menschen aus Mannheim der Bundeskanzlerin und dem ehemaligen US-Präsidenten zwei ebenso schwierige wie wichtige Fragen zu ihrer ethischen Verantwortung als Politiker und Staatsführer. Sie zielten auf den Kern politischer Entscheidungen in einem demokratischen, freiheitlichen Gemeinwesen. Eine junge Frau wollte wissen, wie man rechtfertigen könne, dass in diesem Jahr bereits über 1.500 Menschen auf ihrer Flucht aus Afrika im zentralen Mittelmeer ertrunken seien. Und ob es – anstatt sich mit immer neuen Gesetzen und Verträgen weiter gegen Flüchtlinge und Migranten abzuschotten – nicht vorrangige Pflicht sei, Menschenleben zu retten. Ein junger Mann fragte, wie sich der Einsatz von mit Raketen bestückten Drohnen gegen mutmaßliche Terroristen nicht nur mit dem internationalen Recht, sondern auch mit dem persönlichen Gewissen vereinbaren lasse. Denn bei diesen Angriffen würden nicht nur in einem fernen Land "bloße" Verdächtige, sondern zugleich viele unschuldige Menschen, darunter Frauen und Kinder, getötet werden. Sowohl Merkel und Obama äußerten, dass sie sich mit ihren Entscheidungen nicht immer wohl fühlten, dass sie selbstverständlich von Zweifel geplagt seien. Aber dass sie als Staatsführer stets auch das Wohl, den Schutz und die Interessen ihrer Bürger und ihrer Nation im Blick haben müssten. Es ist die ewige Suche nach einer Balance zwischen der Gesinnungs- und der Verantwortungsethik – oder wie man heute vielleicht sagen würden: zwischen Ideal- und Realpolitik. Zwei gegensätzliche Maximen Max Weber, auf den diese Unterscheidung unter anderem zurückgeht, schrieb: "Wir müssen uns klarmachen, dass alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: es kann ‚gesinnungsethisch‘ oder ‚verantwortungsethisch‘ orientiert sein. Nicht dass Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: ‚Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘ – oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die (voraussehbaren) Folgen seines Handelns aufzukommen hat." Doch was folgt daraus für die konkrete Politik? Selbstverständlich müssen die in Seenot geratenen Menschen im Mittelmeer gerettet werden. Das ist nicht nur eine ethische, sondern zugleich eine rechtliche Pflicht, festgeschrieben in internationalen Abkommen. Dennoch müssen Politiker ebenso Vorsorge treffen, dass die Gemeinwesen, für die sie Verantwortung tragen, nicht von der Zahl der Flüchtlinge und Migranten überfordert werden. Dass die Regeln der Genfer Flüchtlingskonvention und anderer rechtlicher Vereinbarungen eingehalten werden. Und dass mit den Rettungsaktionen nicht das verbrecherische Geschäft der Schleuserbanden angekurbelt wird. Leitplanken für die schwierige Abwägung Selbstverständlich dürfen Politiker mit Drohnenangriffen nicht einfach das Leben von Unschuldigen aufs Spiel setzen. Zugleich aber haben sie die Pflicht, das Leben und die Sicherheit ihrer eigenen Bürger vor in fernen Staaten geplanten Terrorangriffen zu schützen. Sie müssen darum alles in ihrer Macht Stehende tun, um Attentäter und deren Drahtzieher rechtzeitig außer Gefecht zu setzen. Staatsführer müssen also höchst unterschiedliche und oft gegensätzliche Interessen austarieren. Und nicht nur wenn es um dramatische Fragen wie um Leben oder Tod geht. Sie sind von Amts wegen schwierigen Abwägungsprozessen unterworfen. Selbstverständlich finden diese Abwägungen in einer freiheitlichen Demokratie nicht im luftleeren Raum statt, es gibt dafür Leitplanken: die Verfassung und die einfachen Gesetze zum Beispiel. Oder das Prinzip der Verhältnismäßigkeit, demzufolge bei hoheitlichen Eingriffen in individuelle Rechte ein Übermaßverbot besteht. Aber letztlich bieten auch sie Politikern nur eine ungefähre Orientierung. Hehre Ziele als Mahnung an Realpolitik Eine weitere Richtschnur ist das persönliche Gewissen. Zumindest in demokratischen, freiheitlichen und an ethische Grundsätze gebundene Gemeinwesen. Doch auch das Gewissen kann durchaus unterschiedliche Antworten auf schwierige und komplexe politische Fragen geben. Es bleibt ein unauflösbarer Gegensatz: Menschenrechtsverbände, humanitäre Nichtregierungsorganisationen oder auch politisch engagierte Individuen können sich kompromisslos einem einzigen Ideal verschreiben. Sie dürfen, befreit von Zweifeln, Widersprüchen und Interessenausgleichen, allein einem hehren Ziel folgen. Das macht es einfacher. Dennoch sind diese Idealisten als unbeugsame Mahner der Realpolitik unverzichtbar, sie sind der stete Stachel. Denn sie säen den Zweifel, den jeder gute Staatsführer in sich tragen und zulassen sollte, bevor er eine Entscheidung trifft. Denn niemand verfügt über die einzige, nur allein richtige und gültige Antwort. Zum Zweifel gehört die Erkenntnis, dass auch der andere Recht haben könnte. |
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