| | © Clem Onojeghuo/Unsplash.com (https://unsplash.com/@clemono2) | „Du hast starke Nägel“, sagt die ältere Dame zu mir, die mir die künstlich verlängerten Gel-Nägel, bemalt mit Acryllack und beklebt mit Glitzersteinen, nun abschleift, bis die blassen Originale aus Horn endlich wieder zum Vorschein kommen. Sie spricht dabei ein Englisch, das nach einer Mischung aus Midwestern American und Vietnamesisch klingt, und in dieser bunten Sprache fragt sie mich auch, wo ich mir meine Nägel denn hätte machen lassen. Ich möchte Leipzig, Hauptbahnhof, antworten, aber ich sage: „Europe.“ Es riecht ziemlich toxisch hier bei Fashion Nails in der West Street, Ecke 6th Avenue. Die beiden vietnamesischen Kosmetikerinnen und ihr junger Kollege bei Fashion Nails in Grinnell, einer kleinen Campusstadt im Bundesstaat Iowa, wo ich mich für ein knappes Semester im Frühjahr 2017 aufhalte, sitzen in ihrem winzigen Nagelstudio, und sie husten vor sich hin. Später werde ich deshalb noch sagen: „You should turn on some air circulation. It’s not because of me, you are the ones who work here every day.“ Zwei bis vier Kundinnen werden hier jeweils gleichzeitig bearbeitet: Alte Schellack-Nägel werden abgeschliffen, neue Nagel-Extensions angeklebt und mit Airbrush-Pistolen farbig besprüht. Diesmal sollen es bei meiner Sitznachbarin offenbar weiße Nagelspitzen in Dreiecksform werden, eine dritte Kundin will ihre Nägel pink, so wie immer, heißt es, „I sometimes think of leaving my comfort zone, but then again“: Es bleibt bei Pink. Man hört ihnen zu, man hält einander an den Händen. Ich tauche meine Fingerspitzen in zwei Schüsselchen, gefüllt mit Aceton, und schrecke, da es brennt auf der Haut, kurz zurück. Werden mir hier meine Finger abfallen? Meine zehn weißen, zarten, privilegierten Schreibfinger? Bin ich Julia Roberts als Erin Brockovich? Soll ich es noch einmal sagen: Ladys, ihr erstickt hier noch in diesem Dunst aus Aceton, Lack, Alkohol, Schleifstaub und Nagelbett? Ich habe mir ein einziges Mal in meinem Leben meine Nägel verlängern und sie dann mit UV-Gel aufbauen und neon-orange streichen lassen, darüber wurde teilweise goldener Flitter gestreut. Den Mittelfinger schwarz lackiert, statt „Fuck you!“ zu lettern, wurde darauf mit Acrylfarbe und einem feinen Pinselchen eine Blüte gemalt, am Ende wurde just ins Blüteninnere noch ein Glitzersteinchen geklebt. Das ist vor genau einem Monat gewesen. Ich war auf der Buchmesse in Leipzig, denn ich hatte eine Erzählung für den Rundfunk geschrieben, in der es darum ging, dass sich eine eher lustlose Schriftstellerin von ihrer Friseurin Mandy nur Haare und Nägel machen lassen will, während Mandy lieber durch proaktive Einmischung beim Schreiben des Textes hilft. Mandy weiß selbstverständlich alles besser als die unverbesserliche Schriftstellerin, die weder Ahnung hat von Texten, die die Menschen wirklich lesen oder hören wollen, noch von der richtigen Nagelpflege, zumindest laut Mandy & Literaturkritik. Das Bühnen-Outfit für die Lesung dieser Erzählung in der „Kleinen Träumerei“ vor Live-Publikum mussten demnach die Gel-Nägel sein, die im Text erwähnt werden. Die schrillsten, die sie zu bieten hatten am Leipziger Hauptbahnhof, wo man sich für die gesamte Prozedur eine Stunde Zeit nehmen und in etwa 50 Euro berappen muss.
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