| Das Leid der anderen, ach Gottchen! Auf etlichen Bühnen werden gerade Geschichten von Flüchtlingen erzählt. Man will der Fremdenfeindlichkeit etwas entgegensetzen. Aber ist das nicht selbst ein Übergriff? VON LENA GORELIK |
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 | | | © Marco Longari/AFP/Getty Images | Fremdschämen: Das ist, wenn man sich für Fremde schämt. Ich bleibe sitzen, und ich schüttle meinen Kopf, und ich blicke auf meine Schuhe, und vielleicht laufe ich auch rot an, um das letzte Klischee zu erfüllen, aber später denke ich, vielleicht hätte ich aufstehen müssen, etwas sagen. Mit anderen Worten: Später kommt der Fremdscham das „Fremd“ abhanden. Ich saß da nur so, rutschte unangenehm berührt auf meinem Stuhl hin und her, blickte ungeduldig auf die Uhr, wieder zur Bühne. Suchte nach Spuren von Entrüstung in ihrem Blick.
Auf der Bühne stand eine Frau. Die Frau stammte aus Afghanistan. Sie hatte eine dieser Geschichten, von denen man gerne glauben würde, es gäbe sie nur auf der Leinwand, in Romanen, erlebt. Vielleicht ist aber auch „überlebt“ das richtige Wort an dieser Stelle. Eine junge, kluge, schöne, ehrgeizige Juristin, die an Freiheit und Wissen glaubte, die gegen ihren Willen verheiratet wurde mit einem Mann, der sie paranoid des wiederholten Betrugs beschuldigte, der sie für diesen nie stattgefundenen Betrug schlug, ihr das Studieren verbot, sie permanent erniedrigte, später so weit ging, die gemeinsamen Söhne zu entführen. Sie hält ein Bild hoch, auf dem sind zwei grinsende Jungs zu sehen. Zwei Jahre lang war dieses Bild das Einzige, was sie von ihren Kindern sah: So lange brauchte sie, um sie wieder zu finden. Noch mal so lange, um mit Stationen in vier Ländern Deutschland zu erreichen. Es wäre schön, wenn Deutschland das Happy End dieser Geschichte wäre, aber das ist es nicht. Viele Jahre in Flüchtlingsheimen, in denen sie als Alleinerziehende schikaniert wurde, ein psychisch erkranktes Kind, ständige Angst vor der Abschiebung, Angst vor dem Mann, der ihr nach Deutschland folgte und das Sorgerecht für die Kinder wollte. Heute, da sie auf der Bühne steht, ist es eine dieser Wundergeschichten: Aus ihr spricht der Charme und die Kraft, sie arbeitet als Übersetzerin und engagiert sich ehrenamtlich, indem sie minderjährigen Geflüchteten ohne Begleitung hilft. Ihre Kinder sind, wie sie sagt, Menschen geworden, die anderen ein Beispiel sind.
Kampf gegen Vorurteile
All das erzählt sie, sie erzählt all das offen, und sie tut das auf der Bühne, und sie hat Bilder mitgebracht von ihren Kindern, ihren Vorfahren, ihrer Familie. Sie erzählt es, damit. Damit wir verstehen, was nicht zu verstehen ist, also damit wir eine Ahnung bekommen, damit die Geflüchteten Gesichter bekommen, und die Gesichter Geschichten, und damit die Geschichten Ängste verjagen. Das ist die Hoffnung, und einen Schritt weiter – nämlich, ob diejenigen, die Angst haben, tatsächlich diese Geschichten hören, ihnen zuhören wollen – denkt man lieber nicht. Der Selbstschutz ist einer Machtlosigkeit, einer Verzweiflung geschuldet: Was sonst? Lieber nichts tun? Also tun wir, wir Öffentlichkeitsmacher, wir Kulturschaffende, wir, die wir meinen, eine Stimme zu haben, aber wer hört uns zu? Kaum ein Stadttheater, das nicht das Thema Flucht in einem Stück, einer Performance aufnimmt, keine Lokalzeitung, die nicht neue Nachbarn vorstellt in Serie, kein Literaturhaus, das nicht geflüchtete Autoren zu Wort kommen lässt, und Bilder, Zeichnungen, Fotografien, die Boote auf dem Mittelmeer zeigen, sind auch überall zu sehen. Dahinter steckt ein wichtiger, ein bedeutungsträchtiger Wunsch: Der Wunsch, lauter zu sein, als die anderen. Die, die mit anderen Bildern um sich werfen, die mit Ängsten spielen, bis sie diese in Ressentiments, Überzeugungen und Wählerstimmen verwandelt haben, schlimmer vielleicht noch in Angriffe. Wir sind uns unserer Verantwortung als Stimmen der Gesellschaft bewusst, man wird jetzt wieder politisch als Autor, Theatermacher, Künstler, mit unseren Mitteln ziehen wir in den Kampf gegen Vorurteile, Backlashes und auch gegen den Hass.
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