10 nach 8: Miriam Stein über Erziehung

 
Wenn dieser Newsletter nicht richtig angezeigt wird, klicken Sie bitte hier.

 

03.04.2017
 
 
 
 
10 nach 8


Der Körper als Wunde
 
Mädchen lernen früh, dass sie verletzlich sind, ganz anders als Jungs. Ist das ein Grund dafür, dass doppelt so viele Frauen wie Männer an Angststörungen leiden?
VON MIRIAM STEIN

Ein Zerrbild: Jungenkörper werden robuster als Mädchenkörper wahrgenommen. © Jenn Richardson/unsplash.com
 
Ein Zerrbild: Jungenkörper werden robuster als Mädchenkörper wahrgenommen. © Jenn Richardson/unsplash.com
 
 

Neulich, auf dem Spielplatz in Schöneberg. Ein dreijähriges Mädchen, nennen wir sie Leonie, nimmt den Rutschturm ins Visier. Die Rutsche ist für kleine Kinder viel zu steil angelegt. Trotzdem klettert Leonie mutig auf das Monstrum zu und schon ist es passiert: Sie ist auf dem Weg nach unten unglücklich umgekippt, landet auf dem Kinn und weint. Wie ein Hase springt ihre Mutter auf und hebt hastig ihre schreiende Tochter hoch. Trostküsschen werden verteilt, Kekse aus der Tupperdose geholt und Leonie auf dem Schoß hin und her gewiegt. Ein Liedchen später ist die Krise überstanden, doch auf die Rutsche darf Leonie nicht mehr: viel zu gefährlich.

Tags drauf, gleicher Ort, ähnliche Situation. Nur macht sich heute der gleichalte Leon auf den Weg zur Horrorrutsche. Auch er landet ungünstig im Sand und schreit. Der Rest der Szene läuft allerdings anders ab: Leons Mami schlendert zu ihrem verunglückten Sohn, hebt ihn auf, lacht, klopft den Sand von seiner Hose ab, checkt den Kleinen kurz ab und sagt: "Och, das ist doch nicht so schlimm!" Leon heult noch einmal kurz auf und trollt sich dann zurück zur Rutsche. Einen Moment lang drückt er sich um den Kletterturm herum, blickt ängstlich zur Rutsche des Grauens hinauf. "Versuch's doch nochmal", motiviert seine Mutter ihn. Etwas vorsichtiger wagt er es wieder und jetzt klappt es. Seine Angst wurde überwunden, bevor sie sich manifestierten konnte.

Sich das Knie aufzuschlagen gehört zum Jungensein dazu, genauso wie Schmerzen zu überwinden und den Heilungsprozess des eigenen Körpers verstehen zu lernen. Mädchen hingegen lernen, auf sich aufzupassen und Ängstlichkeit wird Teil ihres Selbstverständnisses. Dadurch entsteht ein Zerrbild: Jungenkörper werden robuster als Mädchenkörper wahrgenommen. Augenscheinlich kann Leonies Körper weniger wegstecken als Leons. Sie lernt, dass sie mit der ständigen Sorge um ihr fragiles System aus Organen, Haut und Knochen leben muss. Ihr Körper, der präsenteste Teil ihrer Identität, wird ihr größtes Handicap.

Neuerdings auch Pfefferspray

Wie tief sich diese schwammige Angst in den Alltag frisst und dort dauerhaft festsetzt, sieht man beispielsweise im lokalen Drogeriemarkt. Dort gibt es neben Schminkutensilien und Tampons neuerdings auch Pfefferspray zu kaufen. Das Bedürfnis nach Selbstverteidigung sei nach den Ereignissen der Silvesternacht 2015 anhaltend gestiegen, heißt es bei dm. Neben der Angst vor Pickeln, Falten und Menstruationsblutflecken bietet das Drogeriemarktregal jetzt also auch Abhilfe bei der Angst vor Übergriffen.

Dabei ist Angst eigentlich nichts Schlimmes. Sie ist überlebensnotwendig, denn sie schützt vor tatsächlichen Gefahren. Nur wenn Menschen zu viele und unbegründete Ängste entwickeln, beschneidet die Angst unsere persönliche Handlungsfreiheit – die Waffe in der Tasche wird zum Symbol der gefühlten Sicherheit.

Schlimmstenfalls wird Angst zur Krankheit. Laut Statistiken fürchten sich vor allem Frauen. Eine Umfrage für die Bild am Sonntag kam zum Ergebnis: Mehr als die Hälfte der deutschen Frauen (58 Prozent) denkt, dass öffentliche Orte heute nicht mehr so sicher sind wie früher. Ähnlich fällt das Ergebnis einer Umfrage für die NDR-Sendung Panorama aus, laut der sich immerhin 27 Prozent der Frauen unsicher fühlen – und nur 20 Prozent der Männer. Und eine globale Studie der Cambridge University zu Angsterkrankungen kommt zu dem Schluss, dass in den vergangenen Jahren doppelt so viele Frauen wie Männer an Angststörungen erkrankt sind. Warum ist das so?    

Forscher fanden einen Lösungsansatz in den Genen, genauer gesagt in dem Komplex namens ESC/E(Z), der besonders stark mit der Ausschüttung von Östrogenen vor dem Einsetzen der Periode reagieren und damit Angstzustände auslösen soll. Dabei schwankt mit dem Zyklus nicht nur der Hormonspiegel, sondern mit ihm auch das Wohlbefinden, die nervliche Belastbarkeit, das eigene Weltbild. Dagegen hilft: die Antibabypille.

Für Frauen, die die Pille nicht vertragen oder diejenigen, die einen Kinderwunsch haben, werden fortlaufend Medikamente entwickelt, die Linderung versprechen, ohne den Eisprung zu unterdrücken. Für Dr. Michelle Craske sind Medikamente ohnehin keine Lösung. Auch PMS und Genkomplexe spielen für die Verhaltenspsychologin höchstens eine untergeordnete Rolle. Die gebürtige Australierin leitet das Angstzentrum an der renommierten UCLA in Los Angeles.

Panikattacken und Angstzustände

Schon im Jahr 2003 machte sie in ihrem Buch Origins of Phobias and Anxiety Disorders auf den Gender-Gap in Sachen Angst aufmerksam, zwölf Jahre vor der Flüchtlingskrise und der verheerenden Silvesternacht 2015. Craske fand heraus, dass Mädchen und Jungen zwischen dem dritten und zwölften Lebensjahr noch gleich viel Angst empfinden. Erst mit dem zwölften Lebensjahr driften die Zahlen auseinander – von da an entwickeln Mädchen öfter Panikattacken und Angstzustände als Jungen. Im Alter von 16 Jahren sind Mädchen sogar sechsmal so häufig gefährdet, eine Angstkrankheit zu entwickeln, wie Jungen.

Der Körper wird zur Wunde

Liegt es also doch am Hormoneinschuss? Am Einsetzen der Periode? Nicht nur, denn Craske sieht die Ursachen vor allem in Leon und Leonie: "Wenn man die Sozialisierung in Betracht zieht, finden sich viele Beweise dafür, dass Mädchen, die Schüchternheit, Zurückhaltung oder gar Angst zeigen, in genau diesen Gefühlsregungen bestärkt werden, während Jungen motiviert werden, ihre Ängste zu überwinden."

In ein paar Jahren wird Leonie eine neue Facette der gesellschaftlich anerkannten weiblichen Furcht kennenlernen. Sie wird feststellen, dass Leon ihr zur Hilfe eilt, wenn sie ängstlich agiert, dass er seinen starken männlichen Arm um sie legt und ihr somit Aufmerksamkeit zuteil kommen lässt. Mit ihrer Angst hingegen, nicht so schön und erfolgreich zu sein wie die jungen Frauen, denen sie auf Instagram folgt, wird er sie wahrscheinlich allein lassen. Ebenso wenn sie fürchtet, dass ihr Körper nicht nur zu empfindlich, sondern vielleicht auch einfach nicht attraktiv genug ist.

Vielleicht wird sie konstruktiv reagieren und versuchen, ihren Körper mit Sport oder Meditation besser kennenzulernen. Vielleicht wird sie ihren Körper aber auch zur Wunde machen, indem sie ihn aushungert oder ritzt. Vielleicht wird sie Berichte zu Übergriffen auf Frauen im öffentlichen Raum lesen und darüber informiert werden, dass solche Übergriffe ausschließlich von Männern ausgeübt werden, die aussehen, als wären sie arabischen Ursprungs. Und vielleicht wird sie dann im dm neben Abdeckstift und Tampons auch zu Pfefferspray greifen, nur zur Sicherheit, versteht sich.

"In den vergangenen Jahren haben wir ein perfektes Umfeld für Angst erschaffen", sagt Dr. Craske. "Beiträge über Terroranschläge, aber auch isolierte Einzelfälle grausamer Verbrechen werden so lange und vordergründig medial thematisiert, bis wir ganz sicher sind, dass solche Fälle unseren eigenen Alltag akut bedrohen." Was empfiehlt Dr. Craske den betroffenen Frauen? "Sich im Ernstfall Hilfe holen, denn Angsterkrankungen sind therapeutisch gut heilbar. Sich vergegenwärtigen, welche Gefahren einen direkt betreffen und welche eben nicht. Verstehen, dass der eigene Körper eben gar nicht fragil ist."


Miriam Stein, 1977 in Südkorea geboren und in einer deutschen Familie in Osnabrück aufgewachsen, arbeitet als Journalistin und Autorin in Berlin. Von 2004–2013 schrieb sie als freie Journalistin regelmäßig für die Wochenendbeilage der "Süddeutschen Zeitung", jetzt ist sie Kulturchefin der Zeitschrift "Harper’s Bazaar". Miriam Stein hat ein Theaterstück ("Black Tie", mit Rimini-Protokoll, 2008) und drei Bücher verfasst, letzten Herbst ist "Das Fürchten verlernen" bei Suhrkamp erschienen.
 

Sie wollen der Diskussion unter dem Text folgen? Hier geht es zum Kommentarbereich.
10 nach 8
 
Frauen schreiben jetzt auch abends. Montags, mittwochs, freitags. Immer um 10 nach 8. Wir, die Redaktion von 10 nach 8, sind ein vielseitiges und wandelbares Autorinnen-Kollektiv. Wir finden, dass unsere Gesellschaft mehr weibliche Stimmen in der Öffentlichkeit braucht. 

Wir denken, dass diese Stimmen divers sein sollten. Wir vertreten keine Ideologie und sind nicht einer Meinung. Aber wir halten Feminismus für wichtig, weil Gerechtigkeit in der Gesellschaft uns alle angeht. Wir möchten uns mit unseren LeserInnen austauschen. Und mit unseren Gastautorinnen. Auf dieser Seite sammeln wir alle Texte, die 10 nach 8 erscheinen.