Freitext: Tanja Maljartschuk: Eine Totengräberin kann nicht wissen, was Liebe heißt

 
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13.05.2017
 
 
 
 
Freitext


Eine Totengräberin kann nicht wissen, was Liebe heißt
 
 
Die ukrainische Großmutter war geprägt durch ein blutiges Jahrhundert. Als sie stirbt, soll die Enkelin die Trauerrede schreiben. Was bleibt nach einem solchen Leben?
VON TANJA MALJARTSCHUK

 
© Gleb Garanich/Reuters
 
„Du sollst die Rede schreiben“, sagte meine Mutter per Skype, „die Oma ist gestorben.“
 
„Du musst nicht kommen, es ist weit und teuer, aber die Rede für den Priester sollst DU schreiben. Niemand kannte sie besser, außerdem bist du Schriftstellerin, endlich profitiert unsere Familie davon.“
 
Ich nickte und ging in den Supermarkt, um vier Dosen Bier zu holen. Es war Freitagabend. Am Samstagvormittag sollte der Priester die Rede erhalten, um sich bis zum Begräbnis am Sonntagmorgen vorbereiten zu können. Flankiert von den Bierdosen setzte ich mich an den Schreibtisch, froh, dass meine Anwesenheit nicht verlangt wurde. Ich würde sowieso nicht kommen, ich ertrage Begräbnisse nicht, ich bin allergisch gegen den Tod. Meine Großmutter hatte immer gesagt: Schau, dass du kommst, wenn ich sterbe! Und ich antwortete, ich käme sicher nicht. Sie wusste also Bescheid und sollte sich nicht ärgern. Ich halte die Szene nicht aus, diesen schrecklichen Augenblick, wenn der Sarg in die Erde gelassen wird. Dann will ich mit hinunter.
 
Nach einem Bier um Mitternacht hörte ich auf, auf die weiße Wand vor mir zu starren und fing an zu tippen: „Jadwiga starb vor ihrem neunzigsten Jahr, sie brachte drei Kinder zur Welt, hatte acht Enkelkinder und sieben Urenkelkinder.“ Dann schämte ich mich für diesen Satz eine Weile. Nur die Fortpflanzung gab ihrem Leben Sinn? Sollte sie ausschließlich durch ihren Nachwuchs bestimmt werden, diese robuste alte Frau, die so gut die Fremden und so streng, nein, fast erbarmungslos die Eigenen behandelte? Ihr nichtsnutziger Mann war klug genug, um die erste günstige Gelegenheit zu nutzen und mit Mitte fünfzig zu sterben. Ihr Sohn fürchtete sich vor ihr und widersprach nie. Ihre zwei Töchter flohen und ließen sich jeweils in 600 und 3.000 km Entfernung von zu Hause nieder.
 
Von Ukrainern misshandelt, von Russen misshandelt
 
Nur ich konnte mit der Großmutter länger als eine Woche zusammen wohnen. Ich war die Einzige, die je ihre Erlaubnis bekam, später als um 21 Uhr schlafen zu gehen. Ich durfte neue Badetücher beim Haarewaschen verwenden oder tagsüber auf dem Bett liegen und lesen. Eine unglaubliche Freiheit. Ich durfte ab und zu Münzen aus der Schublade nehmen und zwei Eis kaufen, für mich mit Rosinen im Becher und für sie Schokolade am Stiel, das mochte sie am liebsten. Für all diese Privilegien war ich nur verpflichtet zuzuhören, und das tat ich gerne. Die Großmutter erzählte ihr furchtbares Leben und ich hörte fleißig zu. Sie füllte mein Inneres mit Geschichten. Um vielleicht nicht zu explodieren, begann ich selber Bücher zu schreiben. Fast in jedem kommt sie vor. Sie war eine Verkörperung des zwanzigsten Jahrhunderts, das in der Ukraine besonderes blutig verlief. Während die anderen rundherum qualvoll starben, musste sie überleben. Woher sollte eine Totengräberin wissen, was Liebe heißt?
 
Und nun war sie auch tot.

...

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