Freitext: Katja Oskamp: Schnipp Schnapp Schnupp, Neukunde

 
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16.06.2019
 
 
 
 
Freitext


 
Schnipp Schnapp Schnupp, Neukunde
 
Erwin Fritzsche hatte erst Probleme, das Marzahner Nagelstudio überhaupt zu finden – und wirklich schlimm zugerichtete Füße. Doch seine Geschichte birgt auch Glamour.
VON KATJA OSKAMP

 
Heute geht es Erwin, dem Neukunden, nicht mehr so gut, aber früher, als Beleuchter beim Friedrichstadt-Palast, hatte er einen guten Draht zum Ballett. © Gueffroy/imago images
 

Dieser Artikel ist erschienen auf unserer Schriftstellerplattform "Freitext". Dort schreibt Katja Oskamp ihre Kolumne "Fußpflege in Marzahn".


Das Berliner Hausnummern-Chaos macht vor Marzahn nicht halt. Die Straßen verzweigen sich hier mehrarmig in die Wohngebiete. Die Straße, in der unser Studio ist, verläuft zweigleisig, einmal hinter den Punkthochhäusern, einmal davor. Sie erstreckt sich über anderthalb Kilometer, hat aber trotzdem nur fünfundfünfzig Hausnummern, denn sie wird oft von Plätzen und Grünflächen unterbrochen. Nicht selten irren Ortsunkundige verzweifelt über die Wiese vor dem Studio und suchen das Ärztehaus in der Nummer 30. Wir sind die Nummer 32 und vom Ärztehaus etwa zwei Gehminuten entfernt. Um dorthin zu gelangen, muss man sich zwischen zwei Halbkreisen entscheiden, die alles Mögliche streifen, nur nicht die Nummer 31. Vereinfacht gesprochen.  
 
Zehn nach zwei klopft es dringlich an die Tür des Studios. Ich öffne und lasse einen kleinen, dicken, aufgeregten Mann ein – Brille, Kahlkopf, Stoffbeutel, bunt kariertes Hemd. Beinahe hätte er "dit Ding hier nich jefunden", schimpft er, hat die Hausnummer gesucht, ist in die falsche Richtung gelaufen und deshalb nun zu spät.
 
Mein Neukunde ist kein Ortsunkundiger. Er wohnt, wie er mir bei der Terminvereinbarung am Telefon sagte, seit zwanzig Jahren in unmittelbarer Nachbarschaft. Den Termin haben wir schon vor acht Wochen ausgemacht. Damals sagte er, als ich nach Rückrufnummer und Namen fragte: "Dit is der Erwin. Der Erwin Fritzsche." Er fragte mich ungefähr siebenmal: "Und dit mit die Füße, dit könnse wirklich, ja?" Sein Misstrauen amüsierte mich, aber ich rechnete damit, dass mein Neukunde nicht erscheinen würde. Womöglich hatte er längst eine andere Fußpflegerin gefunden oder es ganz bleiben lassen.
 
Nun sitzt er vor mir mit hochgekrempelten Hosenbeinen, die Füße im Wasser. Verhaspelt sich beim Sprechen, kommt zu Atem und beruhigt sich, weil ich ihm versichere, dass wir genügend Zeit haben und – abgesehen von der kleinen Suchaktion – doch alles bestens geklappt hat mit uns beiden. Sogar das vor acht Wochen von mir erwähnte Handtuch hat er dabei, was mich erstaunt. Erwin Fritzsche bekommt ein Lob dafür.
 
Ich trockne seine Füße ab, die sich fest und ein bisschen knubbelig anfühlen; Kartoffelfüße nenne ich diese Sorte. Als obligatorische Entschuldigung für ihren Zustand erzählt er: "Sone Podo-dingsbums hat ma de großen Zehen vasaut, alle beede, janz vaeitert warnse. Ick konnt kaum noch loofen. Die mussten uffjeschnitten werden!" 


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