Fünf vor 8:00: Verschweigen? Nein! - Die Morgenkolumne heute von Martin Klingst

 
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 FÜNF VOR 8:00
12.12.2016
 
 
 
 


 
Verschweigen? Nein!
 
Bei Straftätern sollte auch die Herkunft genannt werden. Das Verheimlichen dieser wichtigen Information nützt wie im Freiburger Mordfall nur rechter Hetzpropaganda.
VON MARTIN KLINGST

Soll bei einem Kriminalfall gemeldet werden, ob ein Tatverdächtiger Deutscher oder Ausländer ist? Oder ein Deutscher mit Migrationshintergrund? Verbrechen bleibt Verbrechen – machen Nationalität, ethnische Abstammung oder Herkunft da irgendeinen Unterschied? 

Mehr noch: Dürfen diese Unterscheidungsmerkmale in einer Gesellschaft, die das Diskriminierungsverbot in ihre Verfassung geschrieben hat, überhaupt eine Rolle spielen? Was dient dem Schutz des Tatverdächtigen? Oder der Vorbeugung gegen Vorverurteilungen? Und was ist eher Ausdruck einer auf die Spitze getriebenen politischen Korrektheit? 

Darüber wird nicht erst debattiert, seit die Tagesschau es neulich unterließ zu melden, dass die Freiburger Polizei einen 17-jährigen Flüchtling aus Afghanistan als mutmaßlichen Mörder und Vergewaltiger der Studentin Maria L. gefasst hatte. Die Redaktion der Tagesschau hielt den Vorgang lediglich für eine regionale Nachricht. 

Schon ewig und immer wieder aufs Neue wird heftig darüber gestritten, was in solchen Fällen berichtet werden muss. Und vor allem: welche Hintergründe eines Tatverdächtigen offengelegt und welche geheim gehalten werden sollten. 

Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS) unterscheidet in der Regel nicht zwischen Deutschen mit und ohne Migrationshintergrund, wohl aber zwischen deutschen und ausländischen Tatverdächtigen. Nicht selten kommen die Jahresberichte zu dem Ergebnis, dass Ausländer in einigen Deliktbereichen häufiger tatverdächtig sind als Deutsche. 

Einige Experten halten die Differenzierung nach Staatsangehörigkeit für irreführend und diskriminierend. Sie weisen darauf hin, dass einige Straftaten nur von Ausländern begangen werden können, wie etwa Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz. Außerdem seien die meisten in Deutschland lebenden Ausländer männlich und jung, sie seien durchschnittlich ärmer als die Gesamtbevölkerung und lebten oft in Problemvierteln der Großstädte – sie gehörten also zu den Gruppen, bei denen auch von Deutschen überdurchschnittlich viele Straftaten begangen werden. 

Das Fazit der Kritiker: Würde man Ausländer nicht pauschal mit allen Deutschen vergleichen, sondern nur mit jenen Deutschen, die dieselben besonderen Merkmale aufwiesen wie Ausländer, dann wären Letztere nicht krimineller. 

Das ist durchaus richtig. Allerdings lässt sich jede Statistik unendlich ausdifferenzieren und herunterrechnen, bis am Ende sämtliche Unterschiede zwischen den Tätergruppen bis zur Unkenntlichkeit verschwimmen. Das ist am Ende wenig nützlich. 

Natürlich ist jede Kriminalstatistik mit Vorsicht zu genießen. Ihre Aussagekraft ist begrenzt, sie kann allenfalls eine Annäherung an die tatsächlichen Verhältnisse sein. Außerdem spiegelt die Statistik nur das sogenannte Hellfeld der Kriminalität wider, wie das die Fachleute nennen, also nur die der Polizei bekannt gewordenen Fälle und Tatverdächtigen. 

Angst vor Stigmatisierung

Dennoch können diese Zahlen durchaus helfen, gesellschaftliche Fehlentwicklungen aufzudecken und einzudämmen, bieten sie doch erste Ansatzpunkte für genauere Analysen und Präventionsprogramme.

Schon deshalb sollte jede Einwanderungsgesellschaft ein Interesse daran haben, möglichst genau zu erfahren, welche ihrer Bevölkerungsgruppen besondere Probleme haben und darum besonderer Unterstützung und Aufmerksamkeit bedürfen. Es macht darum bisweilen wenig Sinn, in der Kriminalstatistik zwar zwischen Deutschen und Ausländern zu unterscheiden, aber den jüngeren Migrationshintergrund deutscher Tatverdächtiger nicht zu nennen. 

Nicht der Pass entscheidet darüber, ob ein Mensch schneller mit dem Strafgesetz in Konflikt gerät, sondern in der Regel die sozialen und wirtschaftlichen Nöte, die fehlende Integration, die Schwierigkeiten kultureller Anpassung. 

Das Verschweigen der Hintergründe in der Statistik ist oft Augenwischerei, denn die kriminologische Forschung stellt schon lange nicht mehr auf die Ausweispapiere ab, sondern vornehmlich auf spezifische Eigenheiten der Tatverdächtigen, wozu auch die Migrationsgeschichte gehören kann. Bloß kann diese wichtige Information, weil nicht allgemein erfasst, meist nur mithilfe äußerst aufwändiger Befragungen beschafft werden. 

Die Scheu, die Herkunftsgeschichte eines Tatverdächtigen zu nennen, ist zwar menschlich verständlich. Zu oft werden diese Informationen verfälscht, missbraucht und heißt es vorschnell, Ausländer oder Deutsche mit ausländischen Wurzeln und Flüchtlinge seien krimineller. Die furchtbare Tat eines Einzelnen wird dann gerne einer ganzen Gruppe zur Last gelegt. 

Nachvollziehen lässt sich deshalb, dass die Redakteure der Tagesschau Hemmungen hatten, die Nachricht über den mutmaßlichen jungen Mörder aus Afghanistan in die Welt zu setzen. Die Sorge vor der Stigmatisierung von Flüchtlingen und einer neuen Welle des Fremdenhasses sitzt tief. 

Dennoch war es falsch, der Öffentlichkeit diese Information vorzuenthalten. Der Mord war längst eine nationale Nachricht und ebenso der Verdacht, der Täter könnte ein Asylbewerber sein. Das Verschweigen der Ermittlungsergebnisse nährte darum erst recht den Verdacht, hier sollte die Wahrheit aus Gründen politischer Opportunität unterschlagen werden. Das ist Stoff für die rechte, fremdenfeindliche Propaganda. 

Vor einem guten Jahr veröffentlichte die Stockholmer Tageszeitung Dagens Nyheter, dass die schwedische Polizei systematisch Informationen über Gewalttaten verheimliche, die von und gegen Flüchtlinge begangen werden. Derartige Delikte, hieß es, würden mit dem Geheimhaltungscode "291" versehen, der es verbiete, Nachrichten darüber an die Öffentlichkeit zu geben. 

Die Anweisung, heißt es, soll damals auf Bitten der schwedischen Einwanderungsbehörde ergangen sein. Es kam, was kommen musste: Die Verschleierung löste einen gewaltigen Proteststurm aus. Und der übertönt eine eigentlich sehr beruhigende Nachricht, die aber die aus gutem Grund aufgebrachten Schweden derzeit nicht hören wollen: Flüchtlinge sind in dem nördlichen EU-Land nicht einmal für ein Prozent aller Straftaten verantwortlich.


 
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