Freitext: Ann Cotten: Eissturm war in Washington

 
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23.12.2016
 
 
 
 
Freitext


Eissturm war in Washington
 
 
Mit Rassismus ist es wie mit vielen Problemen: Es herrscht der Konsens, ihn abzuschaffen, aber die Apparate laufen weiter, die ihn aufrechterhalten. Zu Besuch in Washington
VON ANN COTTEN

 
© Ann Cotten
 
Bitte lassen Sie die Kunden zuerst aussteigen, heißt es in der U-Bahn in Washington, das Wort durch den überdehnten Gebrauch in einen sarkastischen Metajargon einschleusend. Müsste es nicht heißen: „the people who self-identify as customers“ – die Leute, die sich selbst als Kunden bezeichnen? Die Phrase von der Selbstidentifikation hat sich stark ausgebreitet, in offiziellen Formulierungen und Medien und im notorisch tastenden privaten Sprachgebrauch. Ironien sind im sogenannten uptalk oder high rising terminals (UK) zu einem standardisierten Unsicherheits-Absicherungsbrei geworden. Überall Mangel an Verben im Vokabular – stattdessen sagt man „ist“ mit einer Distanzierung und sucht dann nach einem passenden Adjektiv: it’s like, like, like, uhm…nice?

Bei jungen Studenten sind die Stimmen ärgstens verstellt, höher, wenn man lieber, tiefer, wenn man kompetent wirken möchte, und oft noch mit einer gekräuselten Oberlippe, die Ekel und Überforderung anzeigt. Der Fragetonfall, der mittlerweile privates informelles Sprechen vom Befehlston unterscheidet. Und aber dann der Befehlston, der sich im Kontrast dazu kultiviert wird, forciert oder mit Lust, von den anderen. Die Ohren dröhnen mir schon von den Sprachmelodien dieser Gestalten, die auf den Europäer grotesk wirken. Karikaturen von Besserwissern, die aus der festen Überzeugung heraus, in allem optimal Bescheid zu wissen, alles zu kontrollieren versuchen – nur um dann eine sanfte Hauchigkeit auf ihre Stimme zu legen, um den dadurch entstandenen unangenehmen Effekt zu dämpfen. Sowas wird man nur über Jahrzehnte los, indem man sein Leben ändert. Das braucht keiner, dem es gelingt, hier halbwegs angenehm zu leben und die Hälfte seines Daseins nicht wahrzunehmen.

Obdachlose überall. Es ist bitter bitter kalt. Ein mit fünf Decken vermummter Mensch sitzt unter einer Bushaltestelle neben einer Werbung für Autisten-Awareness: Avoiding eye contact is one sign of autism. Ich wende die Augen ab. Es ist mir zuviel. Die Frauentoilette im letzten Bahnhof wirkte wie ein Irrenhaus des vorvorigen Jahrhunderts, in der Nebenzelle scheuerte eine Hand mit einem Fetzen Klopapier den Boden, jemand sang, und in der Ecke legte eine hochgewachsene Frau mit der Präzision professioneller Haushaltskunst Decken zusammen. Sie wirkte nicht irre.

Die vielen Monumente des Capitols zeigen sich im Caspar-David-Friedrich-Licht, gleich darauf gibt es einen Sonnenuntergang am Potomac, ich stürze in US-amerikanische Naturfotografie und muss fast kotzen, als auch noch Welle um Welle von Gänsen über den Fluss geflogen kommen. Etwas provoziert mich an diesem Guten und Schönen. Ich denke an sanftstimmige graumelierte nice men, die Sachen reparieren können und gerne zelten und sensibel auf ihre Frauen eingehen, wenn man sie respektiert, und denke daran, aus Protest durchzudrehen oder so etwas. Was hier als gut gilt, hat eine ausschließende Komponente, die verleugnet wird, sodass es erscheint, als wäre es Zufall, wenn nicht alle an der Güte partizipieren. Da ist etwas, etwas wie ein Einwand, was, um gehört zu werden, erst einmal als Nein in Erscheinung tritt. Und gegenüber, den Blick abwendend, eine Existenz, die komplett unfähig ist, effektiv zu sprechen, weil es trotz allen selbstvermindernden Sprechens weiterhin durch seine nicht im Geringsten verminderte Existenz provoziert. Mit dem Rassismus ist es wie mit den meisten anderen Problemen in unserem gespenstischen Posthistoire: Theoretisch herrscht Konsens, dass er abzuschaffen ist, jedoch laufen die Apparate weiter, die ihn aufrechterhalten. All diese Leute, die dagegen sprechen, aber ihr Leben nicht ändern, profitieren laufend davon, die Implementierung hinauszuzögern.

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