Ich bin groß geworden im Kalten Krieg – in einer Welt, in der die Frage Krieg oder Frieden vom Gleichgewicht des atomaren Schreckens abhing und von der Rationalität zumal der amerikanischen und sowjetischen Führung. Die Fürchterlichkeit eines Atomkriegs zwang zu Vorsicht und Umsicht, Abschreckung war die Parole. Und die Gewissheit der
Mutual Assured Destruction, der Fähigkeit zu gesicherter gegenseitiger Zerstörung, bot die Garantie, dass die Abschreckung wirkte. Jeder wusste: Wer zuerst schießt, stirbt als zweiter. In Michael Stürmers Formulierung: "Es war die Apokalypse, die den nuklearen Ernstfall verhinderte."
Ein verrücktes System, manche hielten und halten es für pervers. Aber im Ost-West-Konflikt hat es 40 Jahre lang funktioniert. Es funktionierte, weil die Russen wussten, dass Amerika selbst nach einem sowjetischen Erstschlag noch genug intakte Kernwaffen übrig hätte, um die 200 größten Städte der Sowjetunion zu zerstören. Es kam daher nicht zu dem gefürchteten Armageddon, der biblischen Endschlacht. Winston Churchill behielt Recht mit seiner Prophezeiung aus dem Jahre 1955: "
Safety will be the sturdy child of terror, and survival the twin brother of annihilation" – Sicherheit wird das stramme Kind des Schreckens sein und Überleben der Zwillingsbruder der Vernichtung.
Das Zeitalter der Kernwaffen begann am 16. Juli 1946. An diesem Tag testeten die Amerikaner in der Wüste von New Mexico die erste Atombombe. Drei Wochen später fiel über zwei japanischen Großstädten der Tod vom Himmel. Little Boy, Sprengkraft 13 Kilotonnen Trinitrotoluol, wurde am 6. August 1945 über Hiroshima abgeworfen; 70.000 Menschen starben sofort, 200.000 Tote verzeichnete das Sterberegister binnen fünf Jahren. Fat Man, Sprengkraft 20 Kilotonnen TNT, zerstörte drei Tage später Nagasaki; 140.000 Tote hatte die Stadt in den nächsten fünf Jahren zu beklagen. Nach diesen verheerenden Angriffen kapitulierte Japan.
Nordkorea drängt sich in den Club Bis heute hat es keinen weiteren Einsatz von Atomwaffen gegeben, obwohl mehrmals die Versuchung groß war, sie zu benutzen. Seit 1945 haben sich indes immer mehr Mächte ein Arsenal von Atomwaffen zugelegt. Zwar hat sich Präsident John F. Kennedys Prophezeiung nicht bewahrheitet, dass es 1975 schon 15 oder 20 Atommächte geben werde; der Atomsperrvertrag von 1967 und der Verzicht von vier Mächten auf Kernwaffen – Südafrika 1991, Brasilien 1998, Libyen 2003 und Iran 2015 – trugen dazu bei, die Proliferation von Nuklearwaffen zu bremsen. Ganz konnte er ihre Weiterverbreitung jedoch nicht verhindern.
Gegenwärtig gibt es neun Atommächte. Dies sind die USA, die 1945 ihre erste Plutoniumbombe testeten, 1952 die erste Wasserstoffbombe. Die Russen folgten ihnen auf dem Fuß (1949/1953). England schloss 1952/1957 auf, Frankreich 1969/1968, China 1964/1987. Indien und Pakistan outeten sich 1998 als Atommächte; Israel ist es spätestens seit den 1980er-Jahren, Nordkorea drängt sich seit 2006 in den Club.
Die Atommächte verfügten Mitte der 1980er-Jahre über rund 60.000 Kernwaffen, wobei 90 Prozent zu etwa gleichen Teilen auf die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion entfielen. Nicht von ungefähr war die Rede von "
nuclear overkill", denn ein Bruchteil hätte ausgereicht, um den nötigen Abschreckungseffekt zu erzielen. Aus dem Ungenügen an diesem Sachverhalt erwuchs der Impuls zu Rüstungskontrolle und Abrüstung. Seitdem sind die Arsenale ständig geschrumpft. Heute enthalten sie noch ganze 16.000 Kernwaffen, wobei Amerikaner und Russen weiterhin 90 Prozent der Bestände halten. Im New-Start-Abkommen von 2010 haben sie vereinbart, binnen sieben Jahren die Zahl ihrer Sprengköpfe auf je 1.550 zu verringern, die Zahl ihrer Trägersysteme auf 800.
Das ist immer noch ein gewaltiges Arsenal. Daher kann es auch nicht verwundern, dass der Ruf nach weiterer Abrüstung nicht verstummt und dass nicht nur Friedensaktivisten, sondern auch politische Schwergewichte eine atomwaffenfreie Welt zum erstrebenswerten Ziel erklären – einem Ziel, auf das sich die Atommächte schon im Atomwaffensperrvertrag von 1968 verpflichtet hatten, ohne allerdings je etwas in dieser Richtung zu unternehmen.
Anfang 2007 richteten vier amerikanische Veteranen des Kalten Krieges einen Appell an die Staatschefs dieser Erde und an die Weltöffentlichkeit: die beiden ehemaligen Außenminister Henry Kissinger und George Shultz, der Ex-Verteidigungsminister William Perry und der frühere Senator Sam Nunn. In ihrem Aufruf zitierten sie das Wort John F. Kennedys: "Die Welt sollte kein Gefängnis sein, in dem die Menschheit auf ihre Hinrichtung wartet."
Ihr Ziel war "Global Zero", eine atomwaffenfreie Welt bis 2030. Viele angesehene Politiker in aller Welt schlossen sich dem Appell der vier Amerikaner an, darunter auf Initiative von Frank-Walter Steinmeier in Deutschland ein prominentes Politquartett: Richard von Weizsäcker, Helmut Schmidt, Hans-Dietrich Genscher und Egon Bahr. In einer "Erklärung zur Freiheit von Atomwaffen" begrüßten sie den Aufruf der Amerikaner und forderten praktische Schritte.
Vieles spricht gegen eine Nulllösung Vier Monate nach seinem Amtsantritt, im April 2009, griff auch US-Präsident Barack Obama in einer Rede in Prag den Gedanken eines
Global Zero leidenschaftlich auf. Seine Kernaussage lautete: "Ein ganz entscheidendes Thema für die Sicherheit der Nationen und für den Frieden in der Welt ist die Zukunft der Atomwaffen im 21. Jahrhundert. Die Existenz Tausender von Atomwaffen ist das gefährlichste Erbe des Kalten Krieges. (…) Ich möchte heute also ganz deutlich und mit Überzeugung Amerikas Bereitschaft erklären, Frieden und Sicherheit in einer Welt ohne Atomwaffen anzustreben."
Obama unterstrich, er sei nicht naiv, das Ziel werde sich nicht rasch erreichen lassen, vielleicht nicht einmal in seiner Lebenszeit. Dennoch hielt er den Zweiflern ein weiteres "
Yes we can" entgegen. Unter anderem für diese Vision erhielt er 2009 den Friedensnobelpreis, eine Art Vorschusslorbeer dafür, dass er seinen Vorsatz auch in die Tat umsetze. Drei Tage vor seinem Auftritt in Prag hatte er in London mit dem damaligen russischen Präsidenten Dmitri Medwedew eine Vereinbarung getroffen, in der sie ihre "beiden Länder auf die Erreichung einer nuklearfreien Welt" festlegten. Mehr ist jedoch bis heute aus diesem Ansatz nicht geworden.
Der
Friedensnobelpreis für die International Campaign to Abolish Nuclear Weapons (Ican) wird daran so wenig ändern wie der im Juli von 122 Mitgliedstaaten der Vereinten Nationen verabschiedete Vertrag über ein Totalverbot der Atomwaffen. Bisher haben ihn erst 53 Länder unterzeichnet und in Kraft treten kann er erst, wenn 50 ihn ratifiziert haben. Die Initiative hat – wie nicht anders zu erwarten – nicht die Unterstützung der Atommächte gefunden. Sie boykottierten alle die Verhandlungen. Amerika, Großbritannien und Frankreich erklärten den Vertrag für unvereinbar mit der Politik der nuklearen Abschreckung, die 70 Jahre lang den Frieden bewahrt habe. Mehrere Länder, die unter Amerikas atomarem Schutzschirm Sicherheit suchen, darunter auch die Bundesrepublik, haben sich bestenfalls Lippenbekenntnisse zu einer eventuellen Abschaffung der Kernwaffen abgerungen.
Alle wollen in den Himmel, nur möglichst nicht gleich In der Tat spricht ja vieles gegen eine Nulllösung. Eine nuklearwaffenfreie Welt könnte unfriedlicher werden als die "stabile" Welt der nuklearen Abschreckung, da konventionelle Kriege, vor denen alle bislang aus Angst vor Eskalation zurückscheuten, wieder denkbarer würden. Ohnehin wird das Wissen, wie Atomwaffen herzustellen sind, nicht mit einer Nulllösung verschwinden, sondern in den Köpfen und Laboratorien fortleben. In Bedrängnis geratene Ex-Atommächte könnten da leicht auf die Idee kommen, mit alten Plänen – und möglicherweise mit beiseitegeschafftem Spaltmaterial – sich wieder nukleare Waffen zuzulegen. Nukleare Ehrgeizlinge vom Typ Kim Jong Un aber könnten sich in einem kurzen Spurt zum Weltdespoten aufwerfen. Dieses Risiko wird so bald keiner eingehen wollen.
So wie wir alle in den Himmel kommen wollen, aber möglichst nicht gleich, so sind auch die Männer im Weißen Haus und im Kreml nicht gewillt, sofort auf Atomwaffen zu verzichten. Keine der fünf Atommächte, die zugleich ständige Mitglieder des UN-Sicherheitsrates sind, hat ernsthaft Anstalten gemacht, die Rolle der Kernwaffen in ihrer Verteidigungsdoktrin herunterzufahren. Im Gegenteil,
sie alle modernisieren ihre Atomwaffen in einer Weise, die deren Lebensdauer bis ans Ende unseres Jahrhunderts verlängert.
71 Jahre nachdem zwei japanische Großstädte unter Atombomben verglühten, hatte Obama in der
Lame-Duck-Phase seiner Amtszeit das Thema weltweit null noch einmal aufgegriffen –
in Hiroshima. Wieder ließ er es an schönen Worten nicht fehlen. Hiroshima und Nagasaki, pointierte er, zwängen die Menschheit zu einer moralischen Revolution. Ich glaube nicht, dass diese moralische Revolution in absehbarer Zeit stattfinden wird. Solange die Beziehungen zwischen den Großmächten prekär bleiben, solange regionale Konflikte ungelöst fort schwären und solange Schurkenstaaten wie Nordkorea in Atomwaffen einen unverzichtbaren Schutzschild sehen, wird das Festhalten an Kernwaffen als Sachzwang empfunden werden, der alle anderen Erwägungen aus dem Feld schlägt.
Der Realismus zwingt zu der Einsicht, dass die nukleare Totalabrüstung der ganzen Welt reine Zukunftsmusik ist. Wie Helmut Schmidt kurz vor seinem Tode sagte: "Es ist realistisch, auch für die Zukunft mit der Existenz nuklearer Waffen zu rechnen. Es ist ebenso realistisch, für ihre weitgehende Verringerung einzutreten." Dass er sich für die
Zero-Lösung eingesetzt hat, war offensichtlich der Überlegung zuzuschreiben, dass sie wohl nie zu erreichen wäre, dass sie als Zielvorstellung aber doch die Staatschefs bewegen könnte, auf ein zur Abschreckung etwaiger Gegner notwendiges absolutes Minimum herunterzurüsten. Vernünftiger als das unrealistische Totalverbot von Atomwaffen wäre es denn auch, sich bescheidenere Ziele zu setzen: eine weitere Reduzierung der Arsenale, ein Verbot atomarer Gefechtsfeldwaffen, schließlich die Herausnahme der einsatzbereiten Kernwaffen aus der Alarmbereitschaft.
Weltweit null? Die von Atomwaffen befreite Welt wird noch lange Zeit kein praktikables Ziel sein. Da hilft auch noch so hehres Wunschdenken nichts.