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„Man, I don’t even have an opinion.“ (Marvin, Pulp Fiction) Ich habe Probleme mit meiner Haltung. Schon länger. Es ist nicht so, dass ich keine hätte. Werte, klar, die hab ich. Gemein sein zum Beispiel, gehässig oder herablassend gegenüber Benachteiligten: finde ich doof, will ich nicht, mach ich nicht. Aber eine konkrete Meinung zu haben macht mir Schwierigkeiten, gar nicht zu reden von einer kontroversen. Ich würde mich nie hinstellen und sagen: Toiletten gendern, habt ihr denn keine anderen Sorgen! Oder: Die Dieselbetrüger von VW gehören alle an den Eiern aufgehängt! Keine Frage, das sind schöne, kraftvolle Meinungen, wie so viele andere auch, gehörte wie unerhörte. Ich würde aber nie mit einer von ihnen hervortreten. Das liegt daran, dass ich das Exponieren von Meinungen, wie es dieser Tage Mode ist, meist für übereilt halte. Ich fühle mich weniger als Stellvertreter und Fürsprecher überindividueller Denkfiguren, sondern versuche – auch wenn man mich der Leisetreterei zeiht – zunächst bei mir selbst zu bleiben. Drum ist mein Bekenntniseifer unterentwickelt, und das hat wieder zur Folge, dass ich mir nur so selten eine Meinung leiste, wie andere ein Schnitzel essen. Ich will mich nicht hinter fiktiven Apologeten wie Ulrich, dem Mann ohne Eigenschaften, verschanzen, aber ich denke tatsächlich, dass man alles, was man sieht, auch anders sehen kann. Daraus ziehe ich sogar einen nicht geringen Teil meines schriftstellerischen Selbstvertrauens. Ich muss nicht zu allem eine Meinung haben, wo es doch genügend Leute gibt, die sich gegenseitig darum kloppen, ihre sagen zu dürfen. Ich dusche am liebsten lauwarm, bevorzuge weder Fisch noch Fleisch und mag mein Gemüse halbgar. Leute, die überall und ständig ihre Meinung kundtun müssen, habe ich schon immer heimlich belächelt, wenn auch vielleicht zu Unrecht. Ich will weder der Mehr- noch der Minderheit angehören, sondern einfach schweigen dürfen. In der systemischen Therapie gibt es einen Namen für meine seltsam haltungslose Haltung: Allparteilichkeit. Sie ist das Gegenteil von Indifferenz, sieht ihr aber zum Verwechseln ähnlich. Mit dem Schiedsrichter- oder Gottkomplex der Überparteilichkeit hat sie auch nichts am Hut. Allparteilichkeit heißt lediglich: Alle haben ihre Wahrheit. Und meistens können sie nicht anders, als dabei zu bleiben. Aber was in Therapie und Literatur von Vorteil ist, hat im praktischen Leben seine Tücken: Wer in diesen Tagen allparteilich mit Trump, Putin und Erdoğan umgehen und womöglich auch noch für Kim Jong Un Verständnis haben will, der muss sich nicht wundern, wenn ihm die verschränkten Ellenbogen den Zugang zu allen Herzen versperren, zumindest den linken. Allparteilich in Zeiten der AfD? – Zugegeben, manche Dinge sind schwer darstellbar. Gerade deshalb wäre eine eigene Meinung – gerade für mich als Autor und gerade jetzt – so wichtig. Schließlich will auch ich geliked werden. Eine einnehmende Meinung zur laufenden Ereigniskultur stiftet Aufmerksamkeit und (mit den richtigen Filtereinstellungen) Zuspruch, und letztlich schärft sich so auch das Profil der eigenen Marke. Eine Meinung ist keineswegs so billig in der Herstellung, wie ich immer gedacht habe. Sie ist immer nur so gut wie die Bioreservate, aus denen ihre Zutaten kommen, und in der Verarbeitung nicht unkompliziert, denn einmal im Umlauf bleibt sie meist nur wenige Stunden frisch. Deswegen muss man sie ständig variieren und aktualisieren. Und um ausreichend Follower zu akquirieren, muss sie auch noch knackig angerichtet sein. Aber wieder nicht zu knackig! Das alles ist eine Kunst für sich.
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