Fünf vor 8:00: Die Grünen und die Sensation - Die Morgenkolumne heute von Lisa Caspari

 
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FÜNF VOR 8:00
01.11.2018
 
 
 
   
 
Die Grünen und die Sensation
 
In Hessen könnten die Grünen den Ministerpräsidenten stellen. Ihre Kraft verdanken sie zwei Effekten, die eigentlich nichts mit ihnen zu tun haben. Das ist ein Problem.
VON LISA CASPARI
 
   
 
 
   
 
   

In Hessen könnte sich eine Sensation ereignen: Der Grüne Tarek al-Wazir wird Ministerpräsident einer grün geführten Ampelkoalition. Gemeinsam jagen Grüne, SPD und FDP die CDU nach 19 Jahren aus der Wiesbadener Staatskanzlei. Und das, obwohl man sich fragen muss, ob die Grünen aus eigener Kraft zum Wahlsieger wurden. Oder ob die Umfragen nicht für sie die Wahl gewonnen haben.
 
Klingt spannend? Ist es auch. Aber seit Angela Merkel am Montag verkündet hat, den CDU-Parteivorsitz abzugeben, interessiert Hessen kaum noch jemanden. Seitdem ist in Berlin mächtig was los. Und in Wiesbaden treffen sich die potenziellen Ampelpartner fast unbemerkt zu Gesprächen.
 
Das ist bitter für die Hessen: Ihr Landtagswahlkampf wurde von der Politik in Berlin dominiert wie lange nicht. Wenig war über hessische Themen zu hören, viel aber von einer "kleinen Bundestagswahl". Die Grünen hatten sogar ein eigenes Plakat dazu. "Tarek statt Groko" stand darauf.
 
Dabei ist hessische Politik auch über die Äppelwoi-Grenze hinweg interessant: Wie kann ein gutes Verkehrskonzept für das Land der Pendler aussehen? Zwischen Frankfurt, Kassel und Gießen stehen Berufstätige teils stundenlang im Stau, die Bahnen sind übervoll. Viele fürchten nun auch noch, dass sie ihr eigenes Dieselauto verschrotten müssen. In den Städten sind die Mieten so massiv gestiegen, dass manche um ihre Lebensgrundlage bangen. Auf dem Land in Nordhessen hingegen verlieren die Häuser an Wert: Hier sorgt man sich um die Zukunft der Bauernhöfe und um die Frage, wie man die Jungen zum Bleiben überredet. In einem reichen Bundesland wie Hessen fällt es außerdem überall besonders auf, wenn Lehrerinnen und Lehrer fehlen und Schultoiletten kaputt sind.

Für den Wahlkampf haben die Landesparteien ihre Konzepte zu all diesen Themen erarbeitet. Doch geredet wurde dann – auch von den Kandidaten – nur über den Frust mit der großen Koalition in Berlin. Profitiert haben davon die hessischen Grünen. Anfang September lagen sie bei 14 Prozent, ein Ergebnis, das den Parteistrategen sympathisch und angemessen schien. Doch dann bewegte sich etwas in Berlin: Nach dem Streit um Verfassungsschutzpräsident Hans-Georg Maaßen kletterten die Grünen in Hessen erst auf 15, dann auf 17, dann auf 18 Prozent.
 
Und nach der Bayern-Wahl – einem Ereignis, das ebenfalls nichts mit hessischer Landespolitik zu tun hat – bekamen die Grünen noch mal einen Schub: Sie hatten plötzlich die SPD überholt und lagen mit 22 Prozent auf Platz zwei. Bei den Sozialdemokraten wussten sie damals: Es ist vorbei.
 
In der Wahlforschung spricht man vom sogenannten "Bandwagon-Effekt". Er besagt, dass viele Wählerinnen sich bei ihrer Entscheidung unbewusst an den vermeintlichen Siegern orientieren. Sie springen also auf den Musikwagen (Bandwagon) auf, auf dem ihrer Meinung nach die beste Stimmung herrscht. Dieser Wohlfühlort, das sind aktuell die Grünen. Nachdem die Umfragen suggeriert hatten, es sei möglich, die SPD zu überholen, ging die Party erst richtig los. Dann interessierten sich Journalisten von Berlin bis Rom für das Phänomen "grüner Ministerpräsident".
 
In anderen europäischen Ländern dürfen Umfragen daher nur bis zu einem bestimmten Zeitpunkt vor der Wahl veröffentlicht werden: In Spanien sind es fünf Tage, in Frankreich zwei, in Griechenland sogar 15 Tage. Ab dann ist Umfragefrei. Die Hoffnung: Vor der Wahlentscheidung geht es wieder mehr um Inhalte, und die Bürger sind in ihrer Wahl weniger beeinflusst.
 
Bei der Abstimmung in Hessen aber gab es zwei Effekte, die bei Landtagswahlen eigentlich keine Rolle spielen sollten: der Verdruss über die große Koalition in Berlin und das Setzen auf vermeintliche Gewinner.
 
In Hessen lagen die Grünen am Ende mit nur 94 Stimmen vor der SPD. Wer weiß, wie es mit einer zeitlichen Umfragesperre ausgegangen wäre? Die Sensation wäre vielleicht eine andere gewesen. Doch auch so wird Tarek al-Wazir vermutlich nicht Ministerpräsident, sondern als Juniorpartner von Schwarz-Grün weitermachen. Ein Dreierbündnis mit der gedemütigten SPD und der selbstgerechten FDP, das wäre in diesen Tagen schwer zu schmieden und noch schwerer zu halten. Das hat auch mit Berlin und mit Umfragewerten zu tun.
 
Zumal die Grünen auch wissen, wie schwer es sein kann: Vor der Bundestagswahl 2013 ging es für sie plötzlich immer weiter nach unten. Die Umfragen, sagen Forscher, führten dazu, dass die Menschen sich abwandten. Und eine Alternative wählten.

 


 
WEITERFÜHRENDE LINKS

WISSENSCHAFTLICHER DIENST DES DEUTSCHEN BUNDESTAGS Veröffentlichung der Ergebnisse von Umfragen vor Wahlen
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG Wie Meinungsforscher die Wahlen beeinflussen
FRANKFURTER RUNDSCHAU Wie Grüne und CDU jetzt pokern

 
   
 
   
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